Nach der Vorrunde - Der unfaire EM-Modus schenkt uns plötzlich Helden, mit denen niemand gerechnet hat

Georgien feiert sein Fußballmärchen bei der EM<span class="copyright">Imago</span>
Georgien feiert sein Fußballmärchen bei der EMImago

Eine Fußball-EM mit 24 Nationen macht die Ermittlung der Achtelfinals zur kühnen Rechenaufgabe. Der umstrittene Modus ist weder konsistent noch in letzter Instanz fair. Andererseits produziert er Geschichten, die wir ansonsten nie erlebt hätten.

Es ist immer ein schlechtes Zeichen, wenn im Fußball neben Sport-Verständnis auch eine ausgewiesene Kompetenz in Mathematik nötig erscheint. Bei der EM war Rechnen zum Vorrunden-Abschluss aber gefragt, weil es die Uefa seit einigen Jahren für eine gute Idee hält, Turniere mit 24 Teams auszutragen statt mit 16. Das gewährt zwar mehr Nationen den Zugang, vor allem kleineren, erhöht aber die Komplexität.

Wer nun ins Achtelfinale vorrücken durfte und wer nicht? Hier kam der Leistungskurs Mathe zum Einsatz.

Umstrittener EM-Modus mit vielen Nachteilen

Sicher qualifiziert waren, wie gehabt, die beiden Gruppenbesten. Die Ermittlung der vier besten Gruppendritten, die es nach rechnerischer Logik brauchte, um das Feld zu füllen, brachte die abenteuerlichsten Theorien, Verrenkungen und Konstellationen mit sich. Und unwiderlegbare Nachteile.

Erstens: der Faktor Zeit. Wer zuletzt spielt, der weiß, was die anderen nicht wussten. Nämlich, wie viele Punkte (und Tore, wichtig!) ausreichen werden. Das war exemplarisch in Gruppe E der Fall, wo den Rumänen und Slowaken vorher klar war, dass ein Unentschieden beiden nützt. Wertfreie Feststellung: Es wurde ein 1:1.

So mussten die Ungarn, die zuvor einen emotionalen Klimax erreicht hatten, drei volle Tage warten, bis sie erfuhren, dass sie sich den Jubel und alles andere hätten sparen können. Im Direktvergleich der sechs Gruppendritten waren ihre drei Punkte zu wenig.

Erster gegen Zweiter, Erster gegen Dritter, Zweiter gegen Zweiter

Umgekehrt schaffte es Slowenien mit praktiziertem Minimalismus in die K.o.-Phase. Ohne Sieg, dafür mit drei Remis. Das gelang 2016 auch den Portugiesen, am Ende wurden sie Europameister. Aber wollen wir das – einen Lohn dafür, nicht gewonnen zu haben?

Außerdem: Gruppensieger wie Deutschland treffen im Achtelfinale auf einen Gruppenzweiten, hier Dänemark. Das ist die konventionelle Arithmetik, aber nicht die einzige. So muss Gruppensieger Spanien „nur“ gegen den Gruppendritten Georgien ran. Und im Duell zwischen der Schweiz und Italien stehen sich zwei Gruppenzweite gegenüber. Wo bleibt da die Linie?

Nein, der seit 2016 zum Zwecke der Geldanhäufung aufgemotzte EM-Modus ist weder konsistent noch in letzter Instanz fair. Andererseits produziert er Geschichten, die wir ansonsten nie erlebt hätten.

Selbst die tollen Österreicher profitierten vom Modus

Die Niederlande unterlag Österreich, schlug Polen und holte gegen Titelfavorit Frankreich ein verdientes Remis. Niemand würde von einer EM-Enttäuschung sprechen, aber nach alter Gangart wäre Oranje trotz couragierter Vorstellungen mit vier Punkten gescheitert. Und mit ihr die farben- wie feierfrohen Fans. So darf sich München freuen, dort steigt Hollands Achtelfinale gegen Rumänien.

Selbst die sensationell auftrumpfenden Österreicher profitierten vom Modus. Durch das 1:1 zwischen Italien und Kroatien – am Vorabend ihrer eigenen Partie gegen die Niederlande – hätten sie sich sogar eine Pleite mit vier Toren Differenz leisten können. Was ihnen erlaubte, die taktische und personelle Herangehensweise radikal zu verändern.

Ralf Rangnick<span class="copyright">Imago</span>
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„Wir haben eine ziemlich unerwartete Aufstellung gewählt, mit der kaum jemand gerechnet hat“, sagte Nationaltrainer Ralf Rangnick hinterher. „Damit konnten wir von Anfang an all in gehen. Dass wir das Spiel nicht mit fünf Toren Unterschied verlieren, egal mit welcher Mannschaft, das war mir und uns schon klar.“ Mitreißende Österreicher gewannen 3:2.

Georgiens EM-Märchen: „Vielen Dank für die Freude!“

Und schließlich, natürlich: die Georgier, die heimlichen Europameister. Ein Unentschieden gegen Tschechien, ein historischer und enthusiastisch zelebrierter Sieg über Portugal – so schafften sie es beim EM-Debüt prompt ins Achtelfinale.

Einheimische Journalisten (einige im Nationaltrikot) klatschten bei der Pressekonferenz, und einer sagte zu Star-Spieler Khvicha Kvaratskhelia: „Vielen Dank für die Freude, die ihr uns bei dieser EM macht!“ Kvaratskhelias Antwort, Pathos-gewürzt: „Wir spielen hier für das georgische Volk und tun alles, um Georgien wieder glorreich zu machen.“

Das Portal „Sportall“ titelte in Anspielung auf Trainer Willy Sagnol euphorisch: „VENI, VIDI, WILLY!!! Georgiens EM-Märchen geht weiter.“ Nämlich gegen Spanien, wie oben erwähnt. Allmählich werden dezente Vergleiche zu Griechenland 2004 bemüht, ein krasser Außenseiter auf dem Weg zu… ja, wozu eigentlich? Kvaratskhelia: „Spanien gehört zu den besten Mannschaften dieser EM, aber wir haben gezeigt, was alles möglich ist…“

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