Trotz Beben: Türkischer Angriff in Syrien

Trotz der Erdbebenkatastrophe greift die Türkei Aktivisten zufolge weiterhin Ziele in Syrien an. Ankara habe mit einer Drohne ein Fahrzeug der kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) attackiert und dabei einen Zivilisten getötet, teilte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit.

Laut syrischer Beobachtungsstelle für Menschenrechte setzt die türkische Regierung im Kampf gegen kurdische Milizen in Syrien ihre Angriffe fort.
Laut syrischer Beobachtungsstelle für Menschenrechte setzt die türkische Regierung im Kampf gegen kurdische Milizen in Syrien ihre Angriffe fort. (Bild: dpa)

Bei dem Angriff am Sonntag in der Stadt Kobane nahe der türkischen Grenze wurden den Angaben nach auch mehrere Menschen verletzt. Den Aktivisten zufolge handelt es sich um den ersten türkischen Angriff mit einer Drohne seit die heftigen Erdbeben die Region vor einer Woche erschüttert haben.

Kobane hat für viele Kurden einen symbolischen Charakter. Kurdische Kämpfer befreiten die Stadt einst mit internationaler Hilfe von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Auch Kobane ist stark von den Erdbeben betroffen. Die Anwohner seien derzeit noch immer mit der Bergung von Leichen beschäftigt, sagte der Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel-Rahman, der Deutschen Presse-Agentur. "Die Türkei sollte diese Angriffe stoppen und den Menschen erlauben, mit dieser Tragödie fertig zu werden."

Es werden immer noch Überlebende gefunden

Derweil geben die Einsatzkräfte in anderen Gebieten die Hoffnung bei der Suche nach Überlebenden nicht auf. In der Provinz Hatay sei am Montagmorgen eine Frau lebend geborgen worden, berichtete die Tageszeitung "Hürriyet" - eine weitere Person nach 176 Stunden. Dort konnten Einsatzkräfte auch einen 13 Jahre alten Jungen nach 182 Stunden unter Trümmern lebend bergen. Sie trugen den Jungen auf einer Liege zum Krankenwagen, wie Bilder des Staatssenders "TRT" zeigten. Ein Helfer hielt dabei seine Hand.

Auch aus der Provinz Gaziantep gab es gute Nachrichten: Die Retter holten eine 40-Jährige nach 170 Stunden lebend aus der Ruine eines fünfstöckigen Hauses, wie der Sender berichtete. Überlebende, die jetzt noch gefunden werden, müssen Zugang zu Flüssigkeit gehabt haben - etwa zu Regenwasser, Schnee, Vorräten oder anderen Quellen. Normalerweise kann ein Mensch etwa 72 Stunden ohne Wasser auskommen, danach wird es lebensbedrohlich.

Am frühen Montagmorgen vor einer Woche hatte das erste Beben der Stärke 7,7 um 2.17 Uhr MEZ die Region erschüttert, Stunden später folgte ein zweites schweres Beben der Stärke 7,6. Die Zahl der bestätigten Toten liegt inzwischen bei mehr als 37.500.

Tausende noch vermisst

Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO beträgt die Opferzahl in Syrien mindestens 5900. Das Epizentrum lag im Nachbarland Türkei. Dort starben den Behörden zufolge mindestens 31.643 Menschen. Mehr als 80.000 Menschen wurden verletzt. UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths, der am Montag in Aleppo eintraf, rechnet mit bis zu 50.000 Toten. Der Unternehmensverband Türkonfed geht von mehr als 72.500 aus. Tausende werden noch vermisst.

Auch Teams von mehreren Hilfsorganisationen aus Deutschland sind seit Tagen in dem Erdbebengebiet im Einsatz. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gestern in einem Telefonat die Lieferung von weiteren Zelten, Decken und Heizvorrichtungen zu. Über das sogenannte EU-Katastrophenschutzverfahren wurden der Türkei nach Angaben von gestern schon jetzt 38 Rettungsteams mit 1651 Helfern und 106 Suchhunden angeboten.

Zudem hätten zwölf EU-Staaten bereits 50.000 winterfeste Familienzelte, 100.000 Decken und 50.000 Heizgeräte zur Verfügung gestellt. Hinzu kämen 500 Notunterkünfte, 8000 Betten und 2000 Zelte, die die Kommission mobilisiert habe.

12.02.2023, Türkei, Kahramanmaras: Kinder spielen in einem provisorischen Zeltlager der Provinzhauptstadt. Fast eine Woche nach der Erdbeben-Katastrophe im türkisch-syrischen Grenzgebiet ist die Zahl der Toten auf mehr als 30.000 gestiegen. Foto: Boris Roessler/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Kinder in einem provisorischen Zeltlager in der Türkei. (Bild: Boris Roessler/dpa)

1,2 Millionen Menschen sind in der Türkei in Notunterkünften untergekommen. Rund 176.000 Zelte wurden in den am stärksten betroffenen Provinzen aufgestellt, teilte das Präsidialbüro am Montag mit. Zudem stellte die Katastrophenschutzbehörde Afad nach eigenen Angaben Tausende Wohncontainer auf. Fast 400.000 Menschen wurden dem Präsidialamt zufolge aus den Erdbebengebieten evakuiert.

In Syrien warnte die Hilfsorganisation SAMS eindringlich davor, in zerstörte Häuser zurückzukehren. In der Kleinstadt Dschindiris sei eine Schwangere Frau wenige Stunden nach den Erdstößen leicht verletzt aus einem halb eingestürzten Haus gezogen worden, berichtete die in den Rebellen-Gebieten aktive Hilfsorganisation. Nach der Geburt ihres Kindes sei sie zurück in das Haus. Während eines Nachbebens stürzte das Gebäude demnach schließlich ganz ein. Die Frau sei ebenso wie das Baby schwer verletzt ins Krankenhaus gekommen.

Warnung vor Gewalt

Der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde, Ali Ertan Toprak, warnte indes vor eskalierender Gewalt. "Es macht mir zunehmend Sorgen, dass die Menschen aufeinander losgehen", sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). "Viele Ortschaften haben bis heute keine Hilfe erhalten. Deshalb ist die Wut so groß."

Die Menschen fragen sich auch, weshalb so viele Gebäude einstürzen konnten. Erste Haftbefehle wurden erlassen. Die Beschuldigten sollen für Baumängel verantwortlich sein, die den Einsturz der Gebäude begünstigt hätten, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu unter Berufung auf Strafverfolger. Experten kritisieren, dass Bauvorschriften für mehr Schutz vor Beben nicht umgesetzt werden.

dpatopbilder - 12.02.2023, Türkei, Hatay: Eine Frau und ein junger Mann gehen durch die Trümmer des verheerenden Erdbebens vom 06.02.2023. Eine Woche nach dem Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet ist die Zahl der Toten auf mehr als 30 000 gestiegen. Foto: Murat Kocabas/SOPA Images via ZUMA Press Wire/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Türkei, Hatay: Eine Frau und ein junger Mann gehen durch die Trümmer des verheerenden Erdbebens vom 06.02.2023. (Bild: Murat Kocabas/SOPA Images via ZUMA Press Wire/dpa)

"Die Türkei hat auf dem Papier eine der besten Baunormen der Welt. Wenn es um die Umsetzung geht, sind wir die Schlechtesten", sagte Städtebauexperte Orhan Sarialtun von der Ingenieur- und Architektenkammer der Deutschen Presse-Agentur. Die meisten beschädigten Gebäude in den betroffenen Provinzen wiesen dieselben Mängel auf: an Stahl- und Eisenstangen, Beton minderer Qualität sei verwendet worden und bei Bodenuntersuchungen habe es Fehlberechnungen gegeben, sagte Sarialtun. Die Opposition macht die Regierung für den Pfusch am Bau verantwortlich. In der Türkei ist Wahlkampf.

Kritik an Erdogan

Der türkische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu warf Präsident Erdogan, der seit 20 Jahren an der Macht ist, gestern einmal mehr vor, das Land nicht auf solch ein Beben vorbereitet zu haben. Er kritisierte zudem, dass die Regierung im Jahr 2018 eine Bau-Amnestie erlassen habe, mit der illegal errichtete Gebäude gegen Strafzahlung im Nachhinein legalisiert worden seien. "Sie haben die Häuser, in denen die Menschen leben, zum Friedhof gemacht und dafür noch Geld genommen", sagte der Oppositionsführer.

Die Bundesregierung kündigte an, die Visa-Vergabe über ein unbürokratisches Verfahren zu vereinfachen, damit Betroffene zeitweilig bei Angehörigen in Deutschland unterkommen können. Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Baden-Württemberg, Gökay Sofuoglu, rief die Behörden im RND dazu auf, bei der Visa-Vergabe tatsächlich schnelle Entscheidungen zu treffen. "Es wird für alle ein Aufwand sein, aber in dieser schwierigen Lage sollten die Behörden sowohl in Deutschland, aber auch in der Türkei alles daran setzen, dass diese Menschen reisen können."

Im Video: Erdbeben - Wundersame Rettung nach mehr als 150 Stunden