ZDF-Mann will deutsche "Regelwut" ergründen und erfährt: "Für Zukunft bin ich gar nicht so"

 

Ausgedruckte Online-Anträge und mehrjähriger Planungsstau - erstickt Deutschland an Überregulierung? "heute-journal"-Moderator Christian Sievers beobachtet in einer bemerkenswerten ZDF-Reportage einen Gordischen Knoten, der zukunftsgefährdend ist.

Christian Sievers steht jeden Morgen im Stau. Marode Brücken im Rhein-Main-Gebiet sind der Grund. (Bild: ZDF / Jonny Müller-Goldenstedt)
Christian Sievers steht jeden Morgen im Stau. Marode Brücken im Rhein-Main-Gebiet sind der Grund. (Bild: ZDF / Jonny Müller-Goldenstedt)

Fast muss man sich wundern, dass es Christian Sievers bislang immer pünktlich zum Sendebeginn ins ZDF-Studio auf dem Mainzer Lerchenberg geschafft hat. Der "heute-journal"-Moderator steht im Stau. Jeden Morgen. Im Rhein-Main-Gebiet um Wiesbaden lassen marode Autobahnbrücken den Verkehr regelmäßig kollabieren. An einigen von wird schon seit zehn Jahren gebaut. "Wann ist's fertig?", ruft der Journalist einem Arbeiter zu. Der ruft zurück: "Morgen!" Dann lachen beide Männer schallend.

Als "verzweifelte Resignation" beschreibt der Journalist seinen allmorgendlichen Gefühlszustand. Sievers hat das Beste daraus gemacht, nämlich eine am Donnerstagabend ausgestrahlte Reportage ("Stillstand und Regelwut - verspielt Deutschland die Zukunft?") aus der ZDF-Reihe "Am Puls". Weiter als der Nachrichtenmann hat sich zuletzt kaum einer ins Dickicht deutscher Überbürokratisierung durchgeschlagen.

Christian Sievers auf einem Kartoffelacker im schwäbischen Speckgürtel. Ein Gewerbepark soll hier entstehen. Doch das wissen Umweltschützer und Anwohner bislang zu verhindern. (Bild: ZDF / Jonny Müller-Goldenstedt)
Christian Sievers auf einem Kartoffelacker im schwäbischen Speckgürtel. Ein Gewerbepark soll hier entstehen. Doch das wissen Umweltschützer und Anwohner bislang zu verhindern. (Bild: ZDF / Jonny Müller-Goldenstedt)

 

"Projektmanagement": Inzwischen machen die Italiener vor, wie es geht

Wobei sein Film besonders schmerzt, wenn er gar nicht im Inland Station macht. Ausgerechnet die Italiener, von den "Made in Germany"-Perfektionisten lange belächelt, machen uns inzwischen vor, wie es geht. Wenn auch aus tragischem Anlass. 2018 stürzte in Genua die riesige Morandi-Brücke ein, ein Unglück, das 43 Todesopfer zur Folge hatte. Schon gut zwei Jahre später war die neue Brücke fertig. Mit langwierigen Ausschreibungen habe man sich gar nicht erst aufgehalten, erklärt der Bürgermeister Marco Bucci dem Gast aus Deutschland. "Projektmanagement" laute das Zauberwort.

Da Christian Sievers gerade in Italien ist, schaut er sich auch noch das modernisierte Schienennetz an. Besserer Service, 40 Prozent niedrigere Preise, explodierte Fahrgastzahlen - Folgen einer Liberalisierung des Schnellzugnetzes vor zehn Jahren. Da kann man als deutscher Reisender nur große Augen machen. "Und dann natürlich ein Espressoautomat zwischen jedem Waggon - bei 300 km/h!", kriegt sich Sievers nicht mehr ein. In fahrplanmäßigen 58 Minuten hat er es von Turin nach Mailand geschafft: "Zzzzip!"

Verbaut sich Deutschland durch Überbürkokratisierung die Zukunft? Nicht nur Christian Sievers ist besorgt. (Bild: ZDF/Jonny Müller-Goldenstedt)
Verbaut sich Deutschland durch Überbürkokratisierung die Zukunft? Nicht nur Christian Sievers ist besorgt. (Bild: ZDF/Jonny Müller-Goldenstedt)

 

"Wir haben mehr Deutschland bekommen, als wir brauchen"

Und in Deutschland? Ist der Tiefbahnhof Stuttgart 21 - "Europas größte Baustelle" - auch nach 30 Jahren nicht fertig. Sievers süffisiert: "Der Bau des Doms zu Speyer im Mittelalter hat fast genauso lang gedauert." Frappierend: Nur Irland und Portugal geben in der EU noch weniger Anteile am Bruttoinlandsprodukt für Infrastrukturmaßnahmen aus. Der ZDF-Mann erkennt den Widerspruch: "Knausrig sein und hohe Ziele stecken passt irgendwie nicht zusammen."

Überschaubare Ziele verfolgt Lothar Kwapinski. Er soll mit seinem Unternehmen im Berliner Umland das Schienennetz ausbauen. Doch seit vier Jahren passiert: nichts. "Die Behörden scheitern an ihren eigenen Vorschriften", stöhnt er über quälend lange Planungs- und Genehmigungsverfahren von Bahn und Bund. Dann ein Satz des Ostdeutschen, der nachhallt: "Wir haben mehr Deutschland bekommen, als wir brauchen."

Egbert Neumann vom Ministerium für Infrastruktur und Landesplanung Brandenburg rechtfertigt vor der Kamera des ZDF-Teams die lange Verfahrensdauer. Man gehe mit Steuergeldern um. "Insofern haben wir ganz, ganz große Anforderungen an Transparenz." Genau da sieht Professor Sabine Kuhlmann, Verwaltungswissenschaftlerin von der Uni Potsdam, Reformbedarf. Verwaltungspersonal werde in erster Linie geschult, sich juristisch abzusichern. Man müsse aber auch Managementqualitäten vermitteln.

Der Architekt Wolfgang Frey (rechts) berichtet Christian Sievers, was er oft erlebe:
Der Architekt Wolfgang Frey (rechts) berichtet Christian Sievers, was er oft erlebe: "Am Schluss sind alle Partikularinteressen erfüllt, das Projekt ist gestorben." (Bild: ZDF/Jonny Müller-Goldenstedt)

 

"Ohrwürmer und Sichtwürmer, die uns einen Drehwurm machen"

Die werden nicht zuletzt für die Energiewende gebraucht. Fünf bis sieben Jahre dauert es von Planung bis Inbetriebnahme einer Windkraftanlage. In der Uckermark scheitern derzeit fünf vorschriftsmäßig geplante Windräder an einer Bürgerinitiative. Deren Gründer sinniert vor der Kamera über "Ohrwürmer und Sichtwürmer, die uns einen Drehwurm machen".

Das Landesamt für Denkmalpflege in Brandenburg ist auf seiner Seite. Der zuständige Beamte rechtfertigt den Planungsstopp mit einer nicht ganz leicht zu verstehenden Landschaftspoesie. Die Drehbewegung der Räder behindere das Schweifen des Blickes in der "ursprünglichen Komposition".

Für die Projektentwickler, sie seit 2016 viel Zeit und Geld investiert haben, sind solche behördlichen Einwände "rational nur schwer nachzuvollziehen". Sie klagen: "Deutschland steht sich selbst im Weg. Der Teufel steckt immer wieder im Detail."

Christian Sievers im Gespräch mit dem deutsch-dänsichen Politiker Claus Ruhe Madsen. Der schleswig-holsteinische Wirtschaftsminister rät:
Christian Sievers im Gespräch mit dem deutsch-dänsichen Politiker Claus Ruhe Madsen. Der schleswig-holsteinische Wirtschaftsminister rät: "Keep it simple - das müssen wir in Deutschland lernen, wenn wir uns international aufstellen wollen." (Bild: ZDF/Jonny Müller-Goldenstedt)

 

"Am Schluss sind alle Partikularinteressen erfüllt, das Projekt ist gestorben"

Das tut er auch im Stuttgarter Speckgürtel. Hier soll ein Gewerbepark entstehen, der Maßstäbe setzt und die Kommunenkasse klingeln lässt. Leider würde er aber auch das dort ansässige Rebhuhn vertreiben. Architekt Wolfgang Frey hat gerade ein Mega-Projekt in China fertiggestellt in nur zwei Jahren. Im selben Zeitraum wurde in Schwaben nur diskutiert. Es gebe in Deutschland keinen, der die unterschiedlichen Interessenslagen einem Kompromiss zuführt, hat er als Hauptproblem erkannt. Sehr oft habe er den paradoxen Fall: "Am Schluss sind alle Partikularinteressen erfüllt, das Projekt ist gestorben."

Christian Sievers fragt nach bei einer betroffenen Anwohnerin, die den Acker hinter ihrem Garten nicht bebaut sehen will. Es könne doch nicht sein, gibt der Reporter die Gegenseite wieder, dass jeder Zukunft gut finde, "aber bitte nicht bei uns". Die Antwort lässt den erfahrenen Interviewer sprachlos zurück: "Für Zukunft bin ich gar nicht so", bescheidet ihm die Frau. "Es läuft doch gut."

Baustellen gibt es in Deutschland nicht wenige - und viele bestehen ohne ersichtlichen Grund über Jahre, wie Christian Sievers festgestellt hat. (Bild: ZDF / Christian Sievers)
Baustellen gibt es in Deutschland nicht wenige - und viele bestehen ohne ersichtlichen Grund über Jahre, wie Christian Sievers festgestellt hat. (Bild: ZDF / Christian Sievers)

 

Im Bafög-Amt wird jeder Online-Antrag ausgedruckt

Eine Ansicht, die weder ihr Bürgermeister a.D. Joachim Wolf teilt ("Der Bürger muss auch sehen: Irgendwoher muss das Geld kommen.") noch die Fahrzeugbau-Unternehmerin, die seit fünf Jahren auf Glasfaseranschluss wartet. Noch die Studentin, die vier Monate auf ihr Bafög wartete, weil im Amt jeder Online-Antrag erst mal durch den Drucker muss.

Bezeichnend, dass der Mut machende, Perspektiven aufzeigende Teil der Doku knapper ausfällt. "Keep it simple - das müssen wir in Deutschland lernen, wenn wir uns international aufstellen wollen", rät der deutsch-dänische Politiker Claus Ruhe Madsen. Und wenn es mit dem verordneten Mentalitätswechsel nicht klappt? Dann hilft womöglich die Kraft des Faktischen.

Brigitte Klamroth, die in Hamburg den Kindergeldantrag erfolgreich vereinfacht hat, ist sich sicher, die Veränderung "passiert jetzt gerade". Die Verwaltung könne es sich wegen etlicher neuer Aufgaben "gar nicht mehr leisten", weiterzuarbeiten wie bisher. Vielleicht werden wir in Deutschland also zum Glück gezwungen.

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