Eine Kneipentour, die den deutschen Sport veränderte
Ernst Vettori: Wintersport-Fans der älteren Generation kennen diesen Namen noch gut.
Der Österreicher, der am Dienstag 60 Jahre alt geworden ist, war einer der erfolgreichsten Skispringer seiner Generation - Olympiasieger 1992 in Albertville auf der Normalschanze, zweimaliger Gewinner der Vierschanzentournee, 15 Weltcupsiege, fünf WM-Medaillen, unter anderem Team-Gold 1991 in Val di Fiemme mit Andreas Felder, Heinz Kuttin und dem heutigen Deutschland-Trainer Stefan Horngacher.
Was aber auch nicht jeder eingefleischte Fan weiß: Die Skisprung-Legende aus Hall in Tirol hat auch die deutsche Sportgeschichte nicht unwesentlich beeinflusst. Ohne Vettori und eine schicksalhafte Kneipentour mit DSV-Ikone Jens Weißflog in Oslo wäre die Wintersport-Nation nämlich wohl um einige historische Erfolge ärmer gewesen.
Skisprung-Idol Weißflog dachte 1993 ans Hinwerfen
Vettori erzählte die Geschichte 2019 bei einem Auftritt in der MDR-Talkshow Riverboat: Sie trug sich zu am Ende der Weltcup-Saison 1992/93 - die für beide nicht gut gelaufen war.
Sowohl Weißflog als auch Vettori hatten noch mit der Umstellung vom veralteten Parallelstil auf den V-Stil mit den sich beim Sprung öffnenden Skiern zu kämpfen und beendeten den Winter ohne Sieg - Weißflog als Elfter im Gesamtweltcup, Vettori auf Rang 23.
Der damals 28 Jahre alte Weißflog fürchtete, den Anschluss verloren zu haben und vertraute sich dem langjährigen Rivalen und Weggefährten an: Er dachte ans Hinwerfen.
„Der Jens ist in Oslo zu mir ins Zimmer gekommen“, berichtete Vettori der interessierten Talkrunde, in der unter anderem auch Biathlon-Legende Kati Wilhelm, Ottfried Fischer, Frank Zander und die zaubernden Ehrlich Brothers saßen: „Er hat gesagt: ‚Ernst, es würde mich freuen, wenn wir nochmal zusammen in die Stadt gehen, einen heben.‘ Er würde jetzt nämlich wahrscheinlich aufhören.“
Vettori redete Weißflog ins Gewissen - mit Erfolg
Vettori nahm das Angebot dankend an („Es war mir natürlich eine Ehre“), habe aber schnell das Gefühl bekommen, dass er Weißflog von seinen Rücktrittsplänen abbringen musste.
„Während wir da so von Kneipe zu Kneipe gewandert bin, habe ich mir gedacht: Warum lasst er das jetzt?“, erinnerte sich Vettori: „Er ist doch noch sehr jung und sehr begabt, überbegabt. Ich habe ihm dann ins Gewissen geredet, dass das viel zu früh ist. Er ist doch gerade erst angekommen im vereinten Deutschland und soll jetzt weitermachen.“ Er sei sicher gewesen, dass Weißflog die Umstellung auf den V-Stil und das gesamtdeutsche Sportsystem letztlich meistern würde.
Vettoris Appelle fanden ein offenes Ohr, wie er kurz darauf feststellte: „Er hat mir aufmerksam zugehorcht und ist am nächsten Tag gut aufgelegt zu mir gekommen und gesagt, dass er es sich durch den Kopf gehen lassen wird.“
Was folgte, ist bekannt: Weißflog machte tatsächlich weiter, erlebte seinen märchenhaften zweiten Frühling - und zementierte seinen Legendenstatus.
Noch zweimal Olympia-Gold, historischer vierter Tournee-Sieg
Weißflog entschied sich zunächst, ein Jahr bis zu den Olympischen Spielen 1994 in Lillehammer dranzuhängen, um seinen vierten Tournee-Sieg und sein zweites Olympia-Gold nach dem Sieg in Sarajewo für die DDR 1984 in Angriff zu nehmen.
Den Tournee-Sieg 1994 verpasste Weißflog nach dem großen Wind-Skandal um Lasse Ottesen noch dramatisch, in Lillehammer allerdings folgte das große Happy End: Auf der Großschanze verwies Weißflog seinen damals großen Rivalen Espen Bredesen auf Platz 2 und holte den Sieg, hinzu kam Team-Gold mit Dieter Thoma, Christof Duffner und Hansjörg Jäkle.
Der „Floh vom Fichtelberg“ war endgültig zum gesamtdeutschen Sporthelden geworden und entschloss sich, seinen Rücktritt nochmal zu verschieben: Vor seinem Karriere-Ende 1996 klappte auch noch der heiß ersehnte vierte Tournee-Gesamtsieg.
„Habe ihm all meine Kraft aufgequatscht“
Der spätere Österreich-Sportdirektor Vettori freute sich mit Weißflog, er selbst fand allerdings nicht mehr aus dem sportlichen Tief: 1994 trat er nach einem weiteren missratenen Winter (Platz 39 im Gesamtweltcup) zurück.
„Blöderweise ist es bei mir nicht mehr so gut gegangen“, blickte Vettori 2019 zurück - und ergänzte in Bezug auf Weißflog augenzwinkernd: „Ich hab ihm all meine Kraft aufgequatscht.“
Tatsächlich ist Vettori keineswegs verbittert. „Es war eine runde Karriere“, sagt er nun in einem aktuellen Geburtstags-Interview mit dem Kurier. In der Heimat ist Vettori immer noch ein bekanntes Gesicht: „Ich bin erstaunt, wie viele Leute wissen, wer ich bin. Gerade meine Generation. Gott sei Dank ist es nicht mehr so, wie zu meiner aktiven Zeit. Da war mir der Rummel manchmal zu viel.“
Weißflog hat sich sein zweites Leben als Hotelier und Restaurantbesitzer in der Heimat Oberwiesenthal aufgebaut. Sein 60. Geburtstag steht am 21. Juli an.