Analyse von Ulrich Reitz - Scholz oder ich – Erdogan sendet eine brisante Botschaft nach Deutschland

Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, besucht ein Spiel der EM 2021.<span class="copyright">Mcm/Turkish Presidency/dpa</span>
Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, besucht ein Spiel der EM 2021.Mcm/Turkish Presidency/dpa

Der Wolfsgruß ist nichts anderes als der türkische Hitlergruß. Dass der türkische Präsident Erdogan nach der Diskussion um das Symbol nach Deutschland reist, ist eine Machtdemonstration. Seine Botschaft richtet sich auch an Deutsch-Türken.

Nachdem die türkische Elf die Österreicher geschlagen hatte, fuhren junge Türken kurz vor Mitternacht und auch noch danach laut hupend durch die Mülheimer Innenstadt, direkt vor dem Rathaus auch an Polizeiwagen mit Blaulicht vorbei. Ihre Autos hatten sie mit türkischen Fahnen geschmückt, sie grölten aus den offenen Fenstern, manche reckten die Hände zum Wolfsgruß, dem türkischen Hitlergruß.

Den Hitlergruß zu zeigen ist verboten, den Wolfsgruß zu zeigen, hingegen nicht. Die Grauen Wölfe , deren Erkennungszeichen er ist, sind eben nicht verboten, anders als die NSDAP und deren Nachfolge-Organisationen. Also darf man ihn auch zeigen, anders als den hochgereckten rechten Arm, den die Nazis hochfahrend den „deutschen Gruß“ nannten. Den türkischen Wolfsgruß verbieten zu wollen, das wäre gar verfassungswidrig. So steht es in einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages.

Wenn Faeser die Grauen Wölfe verbietet, würde „Berlin brennen“

Nancy Faeser müsste also schon die Grauen Wölfe verbieten, was auch möglich wäre, denn es handelt sich schließlich um die größte rechtsradikale „Partei“ in Deutschland, und die wird seit Jahren schon vom Verfassungsschutz beobachtet. Wir reden allerdings über drei Organisationen, nicht nur eine – und würde Faeser ein Verbot riskieren, dann, so schreibt es einer auf „X“: „Würde Berlin brennen“.

Die Grauen Wölfe haben nicht nur 12.000 Mitglieder, wie jetzt oft berichtet wird, sondern, wenn man diese drei Organisationen zusammenrechnet, mehr als 18.000. Wie viele Türken in Deutschland mit deren Mitgliedern sympathisieren, weiß man nicht, es werden viele sein. „Werde Deutscher, bleibe Türke“, so lautet ihr Slogan.

Und der, das macht die Sache auch politisch-diplomatisch kompliziert, ist ganz im Sinne des türkischen Regierungschefs Erdogan. Der hat bei Auftritten in Deutschland die hier lebenden Türken aufgerufen, sich auf keinen Fall zu „assimilieren“ – denn das zu verlangen (es verlangt niemand!) wäre ein Verstoß gegen die allgemeinen Menschenrechte. Das passt zu der Erklärung der türkischen Regierung, die Stimmen der Bundesregierung nach dem Zeigen des Wolfsgrußes durch den türkischen Abwehrspieler Merih Demiral zeugten von „Ausländerfeindlichkeit“.

Im Kern nichts anderes, als was Adolf Hitler aufgeschrieben hat

Die Ideologie der türkischen Spielart des Rechtsextremismus, der sich „ethnischer Nationalismus“ nennt und der das Recht auf Vorherrschaft der Türken nicht nur national, nicht nur religiös, sondern auch völkisch begründet, mit der Überlegenheit der türkischen Rasse, ist im Kern nichts anders, als was Adolf Hitler in „Mein Kampf“ aufgeschrieben hat. So haben es die Politikwissenschaftler Karl Binswanger und Fethi Sipahioglu aufgeschrieben, so steht es auch in einem Special der Bundeszentrale für politische Bildung.

Das türkische Rechtsextremismus träumt von einem „großtürkischen Reich“, seine Vertreter verbündeten sich mit deutschen Nazis in den 30er Jahren, obwohl die Türkei als Land und Regierung damals neutral blieb. Die Überlegenheit der Türken, das sollte die Überlegenheit der türkischen Rasse sein, so wurde der Völkermord der sogenannten jungtürkischen Regierung an dem als nicht-türkisch angesehenen Volk der Armenier begründet, schon 1917 war das. Franz Werfel hat es in seinen „Vierzig Tagen des Musa Dagh“ literarisch unsterblich gemacht.

Türkische Großnation – als Reaktion auf den Zerfall des Osmanischen Reichs nach dem Ersten Weltkrieg – plus islamische Werte – in den 30er-Jahren gab es in der Türkei Pogrome gegen Juden. Jahrzehnte später gingen paramilitärische rechtsradikale Kommandos gegen Gewerkschafter und Sozialisten vor, gegen Kurden, gegen Aleviten. Von dieser Glaubensrichtung, die, anders als Sunniten, ein liberales, tolerantes Religionsverständnis haben, leben in Deutschland 500.000 Türken.

Warum gibt es keine Brandmauer gegen die Grauen Wölfe?

Das, was stets „die“ türkische Gemeinde in Deutschland genannt wird, ist eine innerlich tief gespaltene Veranstaltung. So jemand wie der Grüne Cem Özdemir, der „anatolische Schwabe“, ist der deutsche Lieblingsfeind von Recep Tayyip Erdogan, der zum nächsten Spiel einfliegen will. Ob er dann auch den Wolfsgruß zeigt? 60 Prozent der Türken in Deutschland, die meisten dürften inzwischen – zusätzlich – einen deutschen Pass besitzen – votieren in Wahlen für Erdogan. Es zeigt die Grenzen von Integration.

Özdemir wirft eine interessante Frage auf, angesichts der Tatsache, dass sich auch deutsche Politiker, auch von der CDU, bei Veranstaltungen der Grauen Wölfe sehen lassen: Wenn es eine Brandmauer gegen die AfD gebe, fragte er bei Welt, weshalb dann keine Brandmauer gegen die Grauen Wölfe?

Erdogan demonstriert seine Macht über alle Türken

Was Erdogan jetzt macht – zum Spiel einzufliegen – nennt Eren Güvercin, Gründer der liberalen Alhambra-Gemeinde, eine „Machtdemonstration“. Die heißt, kurz: Über Türken habe ich zu bestimmen, egal, in welchem Land sie leben – und nicht die deutsche Regierung. Und zwar auch ganz gleich, ob es sich um deutsche Passinhaber handelt. Türkei bleibt Türke. Das ist die Botschaft. Und die ist brisant.

Denn: Sie demonstriert machtvoll, dass auch ein deutscher Pass in der Hand eines türkischen Eingewanderten nur eine beschränkte Aussagekraft besitzt über dessen staatspolitische Loyalität. Der türkische Regierungschef stellt mit seiner Teilnahme am Spiel diese Frage: Scholz oder ich? Das mit der Loyalität gilt allerdings nur für Inhaber von zwei Pässen. Viele Türken – wie Özdemir – haben sich ausschließlich für den deutschen Pass entschieden und ihren türkischen abgegeben.

Die Grenze zwischen Nationalismus und Extremismus ist fließend – wie immer. Der türkische Rechtsextremismus wanderte mit türkischen Gastarbeitern nach Deutschland ein. Heute werden 300 lokale Mitgliedervereine gezählt, die im Kern faschistische Ideologie wird über sie in die Gesellschaft getragen. Ihre Namen sind harmlos, die verschleiern die Absicht, heißen „Verein türkischer Arbeitnehmer“, oder „Türkisch-deutscher Freundschaftsverein“.

Die Grauen Wölfe sind das Integrationshindernis für Türken in Deutschland schlechthin

Die Ideologie ist gefährlich, weil sie ansteckend ist und sich über Generationen vererbt – auch auf die Jüngeren, weil sie ihnen auch „Halt“ bietet gegen Erscheinungsformen des westlichen Toleranzverständnisses, die Gleichstellung von Frauen, und die nächste Stufe, die Rechte von Transpersonen. Der türkische Rechtsextremismus ist transphob und getragen von einem islamisch-patriarchalischen Ehrbegriff. Und er nährt sich aus Erfahrungen von Desintegration und Zurückweisungen durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft, auch das gehört zu einem realistischen Gesamtbild.

Die Grauen Wölfe sind das Integrationshindernis für Türken in Deutschland schlechthin. Sie begründen das, was oft „Parallelgesellschaft“ genannt wird – inklusive eigener „Gerichtsbarkeit“, die sich, vor allem bei Erbrechts- und anderen Familienstreitigkeiten, der deutschen Rechtsprechung entzieht. So steht es auch regelmäßig in den Berichten des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes.

Nirgendwo in ganz Europa leben so viele Türken wie in Nordrhein-Westfalen. Ende 2023 waren es 492.500 Menschen. Ihre Zahl wächst gerade sehr stark, weil Migranten aus der Türkei Erdogans inzwischen die zweit- bis drittstärkste Gruppe der Flüchtlingseinwanderung nach Deutschland bilden.

Erdogan wird denen begegnen, die vor ihm weggelaufen sind

Wenn nun also Erdogan zum nächsten Fußballspiel der Türken nach Deutschland kommt, wird er womöglich auch denen begegnen, die vor ihm weggelaufen sind. Das ist auch ein Grund, weshalb diese Fußball-Europameisterschaft nicht zu einem zweiten „Sommermärchen“ wird – anders als die unbeschwerte Weltmeisterschaft 2006. Denn nun hat diese Europameisterschaft ihren ersten politischen Groß-Skandal. Dem Wolfsgruß sei Dank.

Nun können Frau Faeser und der Deutsche Fußballbund nur hoffen, dass der Abwehrspieler Antonio Rüdiger nach einem deutschen Sieg gegen Spanien nicht den islamischen Tauhid-Finger zeigt. Aber vielleicht kommt es auch gar nicht so weit.