Virologe Alexander Kekulé - „Vogelgrippe-Fälle sind nur die Spitze eines gigantischen Eisberges“

Virologe Kekulè sagt: „Um eine Pandemie auszulösen, müsste H5N1 lernen, durch die Luft zu fliegen“
Virologe Kekulè sagt: „Um eine Pandemie auszulösen, müsste H5N1 lernen, durch die Luft zu fliegen“

Der Vogelgrippe-Ausbruch in den USA ist brandgefährlich. Aber nicht, weil dort die nächste Pandemie entsteht. Wir sehen in den USA gerade keinen Übergang zur nächsten pandemischen Phase – sondern eine neuartige Erkrankung bei Milchkühen.

In den Vereinigten Staaten von Amerika gilt, so könnte man meinen, bis heute das Faustrecht der Prärie. Seit Monaten ist dort unter Milchkühen das gefürchtete Vogelgrippevirus vom Typ H5N1 ausgebrochen, offiziell sind bislang mindestens 137 Herden in 12 Bundesstaaten betroffen. Die mächtigen Rinderzüchter und die Milchindustrie verhindern jedoch erfolgreich, dass der Ausbruch eingedämmt wird. So steigen die Zahlen wöchentlich weiter. Nach anfangs vereinzelten Warnungen sind mittlerweile Virologen und Gesundheitspolitiker auf der ganzen Welt alarmiert und fordern von den US-Behörden, der ungehemmten Ausbreitung des Erregers nicht länger tatenlos zuzusehen.

Infizierte Nutztierbestände gelten als ideale Brutstätte für neue, gefährliche Viruskrankheiten. Als das Vogelgrippevirus H5N1 im Oktober 2022 eine Nerzfarm im Nordwesten Spaniens heimsuchte, wurde deshalb umgehend der gesamte Bestand mit über 50.000 Tieren getötet. Sicherheitshalber hat man auch die Kadaver mitsamt den begehrten Pelzen vernichtet. Das gleiche Schicksal ereilte vergangenes Jahr 120.000 Füchse und einige zehntausend Nerze in finnischen Pelzfarmen, nachdem dort H5N1 ausgebrochen war.

In den USA dagegen sind zwar nicht die Kühe, aber wohl die Profite der Industrie und die freiheitsliebenden Cowboys heilig. Rinderzüchter und Milchverarbeiter wehren sich bislang erfolgreich dagegen, dass Tiere, Milch und Personal systematisch auf H5N1 untersucht werden. Weil Kühe, im Gegensatz zu Vögeln, in der Regel nicht schwer erkranken, lassen sich Ausbrüche ohne weiteres verheimlichen. Die Empfehlung der Behörden, beim Umgang mit potenziell infizierten Rindern Masken, Schutzbrillen und Schutzhandschuhe zu tragen, konnte sich bei den Cowboys und in den ländlichen Hochburgen der Waffennarren und Covid-Maßnahmengegner bislang auch nicht so recht durchsetzen. Obwohl bekannt ist, dass H5N1 in direktem Kontakt mit Tieren, ihren Ausscheidungen oder der unbehandelten Rohmilch auch auf den Menschen übertragbar ist, wurden seit Entdeckung des Ausbruchs im April nur etwas mehr als 50 Farmarbeiter auf H5N1 getestet.

Der Ausbruch in den USA ist brandgefährlich – allerdings nicht deshalb, weil dort gerade das nächste Pandemievirus entstehen würde, wie man derzeit von deutschen Corona-Experten hört.

Um Pandemie beim Menschen auszulösen, muss Virus fliegen lernen

Um beim Menschen eine Pandemie auszulösen, muss ein Erreger aerogen, also über die Luft übertragbar sein. Andere Infektionswege, wie direkter Kontakt mit Ausscheidungen, Aufnahme über die Nahrung oder indirekte Schmierinfektionen, reichen dafür nicht aus. Sie können jedoch lokale Epidemien bei Tieren verursachen, die auf engem Raum zusammenleben, das gleiche Futter fressen oder aus dem selben Trog trinken.

Das Influenzavirus H5N1, um das es hier geht, grassiert mittlerweile seit drei Jahrzehnten unter Vögeln. Es hat in dieser Zeit auch zehntausende Infektionen unter Säugetieren verursacht, die sich jedoch immer von selbst beendeten. Die WHO registrierte bislang knapp 900 menschliche Infektionen, die Hälfte davon mit tödlichem Ausgang. Bei den ersten Ausbrüchen unter Geflügel in Südchina in den Jahren 1996 bis 2005 warnten Fachleute aus aller Welt (auch ich), dass von H5N1 die nächste Influenza-Pandemie ausgehen könnte. Um eine Epidemie oder gar eine Pandemie auszulösen, müsste H5N1 jedoch lernen, durch die Luft zu fliegen – wofür es bislang nicht den geringsten Hinweis gibt.

Bei Vögeln wird das Virus über den Stuhl ausgeschieden und über das Trinkwasser aufgenommen. Die aktuellen Ausbrüche bei Säugetieren erfolgten ebenfalls nicht über die Luft, sondern durch Exkremente (bei Pelztieren) oder über die Milch (bei Kühen). Das Virus schaffte das nur, weil es einen mächtigen Gehilfen hatte: Der Mensch pfercht Milchkühe, Nerze und Füchse zusammen und sorgt für intensive, unnatürliche Kontakte (etwa über Exkremente anderer Tiere, das Trinkwasser oder Melkmaschinen).

Unter diesen besonderen Bedingungen kann sich der Erreger auch ohne aerogene Übertragung massiv verbreiten. Weil die Kontaktinfektion – dank menschlicher Hilfe – so effizient ist, besteht für das Virus in amerikanischen Kuhställen kein Anlass (korrekter: kein Selektionsdruck), sich auf einen anderen Übertragungsweg zu spezialisieren.

Kein „Übergang zur Pandemie“

Das geht auch aus den vorläufigen epidemiologischen Untersuchungen hervor – die wegen der Blockadehaltung der US-Milchindustrie allerdings nur langsam vorankommen. Weil die Landwirte keine Rohmilchproben herausrücken, bedienen sich die Wissenschaftler, die ja von Berufs wegen als erfinderisch gelten, kurzerhand in den Regalen der Supermärkte. Die dort verkaufte, homogenisierte und pasteurisierte Milch enthält zwar – nach bisherigen Erkenntnissen – keine infektiösen Viruspartikel mehr. Es finden sich aber, in einem erheblichen Teil der in den USA verkauften Milchflaschen, noch Bruchstücke der bei der Haltbarmachung geschredderten Erbinformation des H5N1-Virus. Fleißige Virologen und leistungsfähige Computer sind derzeit dabei, diese RNA-Stückchen zu sequenzieren und daraus die H5N1-Mutanten zu rekonstruieren, die in amerikanischen Kuhställen zirkulieren. Diese und eine Reihe weiterer Untersuchungen (unter anderem von Abwasserproben aus Milchbetrieben) ergaben keine Anzeichen dafür, dass H5N1 in Richtung aerogene Übertragung mutieren würde.

Was wir in US-Kuhställen beobachten, ist deshalb nicht der „ Übergang zur Pandemie “, sondern die Entstehung einer neuartigen Erkrankung bei Milchkühen, die auch andere Säugetiere über Kontakte, Trinkwasser oder Futtermittel befallen könnte. Wenn die US-Behörden das nicht zeitnah in den Griff bekommen, dürfte die Krankheit bei Rindern „endemisch“ werden, also bis auf Weiteres bleiben – so wie der Menschheit gerade Covid-19 als neue Plage beschert wurde. Dies – und nicht irgendeine unwahrscheinliche Phantasiemutation, vor der manche warnen – ist der Grund, warum der Ausbruch bei Milchkühen schnellstens beendet werden muss.

Paarhufer auf der ganzen Welt in Gefahr

Wenn eine H5N1-Variante bei US-Rindern endemisch wird, sind als Nutztiere gehaltene und auch wildlebende Paarhufer auf der ganzen Welt in Gefahr. Nach aktuellem Kenntnisstand kann sich H5N1 im Euter der Milchkühe gut vermehren, weil es dort ähnliche Rezeptoren wie in den Atemwegen von Vögeln gibt. Diese Andockstellen, über die der Erreger in die Schleimhäute seiner Opfer eindringt, hätte man nicht im Traum dort vermutet – die Biologie ist voller Überraschungen und zeigt uns gerade einmal mehr, wie wenig wir das Verhalten von Viren vorhersagen können.

Genetische Daten legen nahe, dass der Ausbruch in den USA auf eine einzige Infektion eines Rindes durch einen Vogel zurückgeht, die ungefähr Anfang Dezember 2023 stattgefunden hat. Seitdem wird das Virus von Kuh zu Kuh weiterverbreitet, und zwar wahrscheinlich durch Schmierinfektion mit der Rohmilch, die extrem viele Viruspartikel enthält und für Rinder ansteckend ist. Dabei verändert sich das Virus ständig und steigert seine Fähigkeit, sich im Euter zu vermehren und weitere Rinder zu infizieren – ähnlich wie das Coronavirus SARS-CoV-2, das während der Pandemie immer ansteckender wurde.

Wenn schließlich ein perfektes Rindervirus entstanden ist, bedroht es die Nutztierbestände auf der ganzen Welt. Es ist auch nicht auszuschließen, dass sich der für die Infektion benötigte Rezeptor auch im Euter von Ziegen, Schafen oder anderen Säugetieren findet – die wären dann für das an Rinder angepasste Virus ebenfalls empfänglich. Ob es ähnliche Andockstellen auch in den Milchdrüsen stillender Mütter gibt, ist bislang unbekannt.

USA müssen Problem schleunigst in den Griff bekommen

Die USA müssen das Problem schleunigst in den Griff bekommen, egal, ob es den verehrten Cowboys und der mächtigen Milchlobby gefällt oder nicht. Das wäre durch systematisches Testen, Hygieneregeln, Absonderung infizierter Tiere und andere klassische antiepidemische Maßnahmen ohne weiteres möglich. Die als Alternative ins Spiel gebrachte Impfung der Rinder wäre bequem für die Milchfarmer, hätte für die Verbraucher aber nur Nachteile. Wie bei jeder Influenza-Vakzine müsste damit gerechnet werden, dass sich ein erheblicher Teil der Geimpften trotzdem anstecken kann. Solche Impfdurchbrüche wären schwer zu erkennen, weil die Tiere weniger Symptome haben und gewöhnliche Bluttests nicht unterscheiden können, ob ein Tier geimpft wurde oder an Influenza erkrankt war.

Das Narrativ von dem neuen Pandemievirus, das angeblich gerade in den US-Kuhställen entstehen würde, ist aber auch aus einem anderen Grund gefährlich: Die eigentliche Gefahr lauert nicht auf amerikanischen Farmen, sondern überall auf der Welt. Das derzeit grassierende, hoch pathogene H5N1-Virus vom Untertyp (der „Klade“) 2.3.4.4b hat sich in den vergangenen Jahren bei Wildvögeln auf allen Kontinenten eingenistet. In Europa, den USA und in Asien gibt es dadurch jährlich tausende von Ausbrüchen bei Geflügel, ein Ende ist nicht abzusehen (Einzelheiten dazu habe ich vor einiger Zeit im MDR-Podcast besprochen). Das globale Vogelsterben bedroht zudem die Biodiversität und könnte empfindliche Folgen für natürliche Ökosysteme haben, wovon in manchen Regionen auch die Ernährung des Menschen betroffen wäre.

Fälle sind nur die Spitze eines gigantischen Eisberges

Zudem hat die Klade 2.3.4.4b bereits mehrfach gezeigt, dass sie besonders häufig von Vögeln auf Säugetiere überspringt. Dies betrifft nicht nur Nutztiere wie Nerze, Füchse und Milchkühe, sondern auch wildlebende Rinder, Schafe, Hirsche, Katzen, Robben und viele andere Säugetiere. Man muss davon ausgehen, dass es noch mehr betroffene Tierarten gibt und die nachgewiesenen Fälle nur die Spitze eines gigantischen Eisberges sind. Dort, in der Natur um uns herum und auch in unzureichend kontrollierten Nutztierhaltungen, schlummert das größte Risiko für die Entstehung der nächsten Pandemie.

Die Besonderheit der Influenzaviren liegt nämlich darin, dass sie ihr genetisches Material „rekombinieren“, wenn ein Wirt mit zwei Typen gleichzeitig infiziert wird. Auf diese Weise könnte sich das hochpathogene Vogelgrippe-Virus H5N1 mit einem gewöhnlichen Grippevirus vermischen, das zwar wenig krankmachend (niedrig pathogen), aber dafür aerogen übertragbar ist. Damit würde schlagartig ein neues, auch für den Menschen hochgefährliches Virus entstehen. Es wäre sogar möglich, dass sich so ein Killer-Virus bereits irgendwo auf der Welt einmal gebildet hat, aber nicht auf den Menschen übergesprungen ist, weil niemand mit dem kranken Tier, seinen Ausscheidungen oder seinem Kadaver in Kontakt kam.

Dieses Szenario, das nach derzeitigem Kenntnisstand für die Spanische Grippe von 1918 und viele weiterer, schwere Influenzapandemien verantwortlich war, lässt sich mit den heute verfügbaren Mitteln wahrscheinlich nicht verhindern. Die wichtigste Prävention besteht deshalb in der Bereithaltung angepasster Impfstoffe, die im Ernstfall umgehend für die gesamte Bevölkerung zur Verfügung stehen. Die seit der Corona-Pandemie zunehmend impfkritischen Staatsführer Europas und einen möglichen republikanischen Präsidenten der USA davon zu überzeugen, dürfte nicht einfach werden.

Die lauten Warnungen vor einer Pandemie aus amerikanischen Kuhställen und der Ruf nach Massenimpfungen für Rindviecher gehen am Ziel vorbei und bergen sogar das Risiko, dass Politiker das Problem für erledigt erklären, obwohl die Gefahr noch lange nicht gebannt ist. Es wäre wünschenswert, wenn sich Virologen und Epidemiologen diesmal auf eine gemeinsame Linie einigen könnten.