Brisante Thesen in neuem Buch - Forscherin: Je härter wir Migranten behandeln, desto schlimmer werden Zustände bei uns

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Francisco Seco/AP/dpa

Die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger gibt in ihrem Buch „Gegen die neue Härte“ Antworten auf drängende Fragen zu Themen wie Asyl, EU-Grenzschutz, Gewalt, Rechtspopulismus. Sie plädiert für mehr „Zugewandtheit“ – und stößt damit eine heikle Debatte an.

Die Außengrenzen hermetisch abriegeln und rigoros schützen, immer höhere Zäune und Mauern bauen, illegale Migranten hart zurückweisen, die Asylpolitik verschärfen – mit einer Art „Festung“ wollen europäische Staaten den Zustrom an Zuwanderern eindämmen.

Die österreichische Migrationsforscherin Judith Kohlenberger kritisiert diese „Strategie der Abschreckung“ scharf. Sie macht den – ihrer Meinung grundlegend falschen – Kurs sogar mitverantwortlich für Zuwanderer-Gewalt und das Erstarken rechter und rechtsextremer Kräfte in ganz Europa. Das Ergebnis der EU-Wahl habe dies gezeigt, mahnt sie.

Zugleich fordert sie „ein Ende der Abschottungsspirale“ und plädiert – als Gegenstrategie – für „ein Mehr an Zugewandtheit“. Sie sagt: „Entweder wir alle gewinnen, oder wir alle verlieren – weil es nämlich nur ein Wir gibt.“

„Gegen die neue Härte“ – Kritik an unserem Grenzschutz

In ihrem Sachbuch „Gegen die neue Härte“ (dtv Verlag) kritisiert Judith Kohlenberger, dass Menschen auf ihrer Flucht nach Europa viel Gewalt und Ablehnung entgegenschlagen würden. An den EU-Außengrenzen herrsche mittlerweile „eine quasi rechtsfreie Zone, in der rechtsstaatliche Prinzipien offen untergraben werden“, so die Autorin.

„Durch Bürgermilizen, (vermummte) Grenzpolizei und die europäische Grenzschutzagentur Frontex … konnte sich entlang Europas Peripherie ein ‚Gürtel der Gewalt‘ etablieren, der alles fernhalten soll, wovon die kontinentale Gesellschaft nicht berührt werden will und darf“, so Kohlenberger.

Sie behauptet, das konsequente und mitunter harte Vorgehen von Grenzschützern sei mitverantwortlich dafür, dass Flüchtlinge später im Gastland selbst gewalttätig werden.

„Der Rucksack, den ein Flüchtling nach Monaten, manchmal Jahren wirtschaftlicher Deprivation (Entbehrung, die Redaktion) und körperlicher Erschöpfung, Zwangserfahrungen und Gewalt, Pushbacks und Ausgrenzung mit sich herumtragen muss, ist zum Bersten gefüllt“, so Kohlenberger. Dass dies auch für europäische Aufnahmeländer nicht lange gut gehen kann, stehe „außer Frage“.

Die europäische Bevölkerung und die politische Elite reagierten „mit Abwendung, nicht hinschauen, ignorieren, was durch eine Politik der Auslagerung befördert und legitimiert wird“. Die Autorin geht noch weiter. Die „physische Härte an den (Außen-)Grenzen“ setze sich als „emotionale Verhärtung und intellektuelle Abkapselung im Inneren fort“.

Umgang mit Flüchtlingen führt bei uns zu Chaos und Gewalt

Je „militanter“ Grenzen verteidigt würden, um die vermeintliche Ordnung dahinter vor dem Fremden zu bewahren, desto stärker würde eben diese Ordnung bedroht: „Chaos, Gewalt und offene Rechtsbrüche, das Gefühl der Ohnmacht und Resignation strahlen ins Innere aus“, glaubt die Forscherin. Das nähre „die Sehnsucht nach Ordnung und Sicherheit, nach Abgrenzung und Einhegung des Eigenen bei gleichzeitiger Abwehr des anderen“.

In der Krise sei man sich selbst der Nächste, was auch „populistischer Stimmungsmache zupasskommt“, schreibt die Migrationsforscherin in ihrem Buch. „In der öffentlichen Debatte herrschen gegenseitige Schuldzuweisungen, Unverständnis, Unversöhnlichkeit und Unbeherrschtheit.“ Das Level an gesellschaftlicher Empathie sei „merkbar gesunken“.

Die aus ihrer Sicht oftmals inhumanen Vorfälle an Europas Grenzen machten „unsere Gesellschaft gleichgültiger, apathischer, kälter gegenüber den Schwächeren“, befindet Kohlenberger. „Sie bilden das Einfallstor für Illiberalität, Extremismus, Autoritarismus.“

Besonders deutlich werde die Problematik beim Umgang mit Schutzsuchenden in politischen Wahlkämpfen. Dort werde den Menschen vielfach eine „Bedrohung von außen“ eingeredet und ein „harter Kurs in Sachen Migration“ propagiert.

Dabei würden „rassistische, menschenverachtende Positionen salonfähig gemacht“, so die Autorin. „Das offizielle Europa bereitet den Boden für rechte Parteien, die den Diskurs bei nächster Gelegenheit wieder ein Stück ins Extreme verschieben, ihn verrohen und brutalisieren.“

Der politische Diskurs heize sich „immer weiter auf, gesellschaftliche Gräben werden tiefer, rechtspopulistische Kräfte erstarken, die bürgerlichen Institutionen verrohen und universale Rechte werden relativiert“, heißt es in dem Buch. Die Bevölkerung Europas habe sich rechten und rechtsextremen Parteien zugewandt, die ihnen versprochen hätten, „mit der ‚Festung Europa‘ nun endlich Ernst zu machen“.

Viele Menschen suchten „Stabilität und Abgrenzung beim starken Mann, der einfache Lösungen in Form von Nationalismus und Abschottung anzubieten hat“, schreibt die Expertin. Die Strategie von Parteien der Mitte, „den Rechten“ das Wasser abgraben zu wollen, indem man deren Positionen und Diskurse übernahm, sei „fatal“ gewesen.

Anbiederung großer Parteien an radikale Ränder „fatal“

Denn dadurch seien weder der Aufstieg der Extremen verhindert noch deren „Inhalte entschärft“ worden, so Kohlenberger. Vielmehr habe die Anbiederung an die radikalen Ränder zum Erstarken rechtsextremer und anti-demokratischer Kräfte in ganz Europa geführt.

Aus Sicht von Kohlenberger war es „nicht die tatsächliche Überforderung, die uns verhärten ließ“ – sondern „unsere ureigene Abwendung“ von Zuwanderern und „die Aberkennung ihrer Menschlichkeit durch die sukzessive Übernahme rechter, menschenverachtender Positionen und die Etablierung einer Politik der Abschottung nach innen und außen.“

Zu der in ihren Augen falschen Politik der versuchten Abschreckung gehörten auch „aufsehenerregende Schauprozesse“ gegen Asylanwälte und Flüchtlingshelfer. Sie spricht von einer „Kriminalisierung“ dieser Gruppen.

Judith Kohlenberger hält es für einen Irrweg, dass unsere Gesellschaft immer mehr „Energie, Zeit und Geld in die Produktion von Sicherheit investiert, die sie durch Abschottung und Undurchlässigkeit zu erreichen glaubt“. Im Zentrum dieser Strategie stehe der Schutz von Grenzen, nicht der Schutz von Menschen.

Die Frage sei nicht mehr, wie Menschen möglichst geschützt und geregelt „aus Krieg, Inferno, Dürre, Foltergefängnissen, Hungersnöten gerettet werden können“, so die Autorin. Stattdessen ginge es im medialen Diskurs um die Gefahr durch „Überfremdung“ und „Islamisierung“. Dies habe Vorrang vor der Not und dem Elend der Vertriebenen.

Kohlenberger fordert, Zuwanderer nicht länger als Bedrohung anzusehen im Sinne von „die nehmen wir etwas weg“.

Autorin: Migranten nehmen niemandem etwas weg

Sie stellt klar: Wenn Migranten sich „bei uns niederlassen, arbeiten, Steuern zahlen und somit auch Sozialleistungen erhalten, beschneidet das faktisch niemanden, der schon länger hier ist, in Rechten oder Ressourcen“. Auch wenn Fremde die Staatsbürgerschaft und damit das Wahlrecht erhalten, „nimmt das den bereits Ansässigen ihres nicht weg“.

Wer die – relativ schnelle – Verleihung der Staatsbürgerschaft an Zuwanderer kritisiert oder ablehnt, demonstriere nicht nur Härte gegenüber anderen, sondern offenbare einen „im Kern rassistischen Gedanken: die potenzielle Verunreinigung und Beschmutzung der hehren Staatsbürgerschaft in Ländern des Globalen Nordens durch die rassifizierten Fremden aus dem Globalen Süden“.

Kohlenberger nennt die vollständige Abschottung des Eigenen vor dem Fremden „brandgefährlich“. Stattdessen fordert sie eine neue „Durchlässigkeit“, die bereits an den Grenzen beginnen sollte. „Die müssen nicht offenstehen, um in Bausch und Bogen alle hereinzulassen“, schreibt sie. Einlassen solle man „nur manche, und diese nach klaren Kriterien des Schutzes und des Bedarfs“.

Sie will Grenzen, die „dem Grundsatz der Fairness und Gleichheit verpflichtet sind und nicht scheinbar wahllos durchlassen oder aussperren“. Ein erster Schritt in diese Richtung wäre eine „Entmilitarisierung“ des europäischen Grenzraums und „die lückenlose Durchsetzung der Menschenrechte“ in diesem Gebiet.