EM-Kolumne von Pit Gottschalk - Nagelsmann darf nach Gruppensieg alles - nur nichts schönreden

Bundestrainer Julian Nagelsmann<span class="copyright">Getty Images</span>
Bundestrainer Julian NagelsmannGetty Images

In der Pressekonferenz zum 1:1 gegen die Schweiz wähnte sich Focus-online-Kolumnist Pit Gottschalk beim falschen Spiel. Es war nicht alles schlecht, natürlich nicht - aber eben auch nicht so gut, wie es der Bundestrainer darstellen wollte.

Julian Nagelsmann hat schnell Erklärungen zur Hand, warum seine Mannschaft beim 1:1 gegen die Schweiz ins Schleudern kam. Der inkonsequente Schiedsrichter, der glitschige Untergrund, die zu ruhige Stadionkulisse: An Nebenschauplätzen mangelt es einem guten Trainer nie.

Der Bundestrainer baut einen Schutzwall um seine Spieler und betet in der Pressekonferenz die Statistik herunter: Torschüsse, Zweikämpfe, Ballbesitz - alles im grünen Bereich. Und wenn einer ausfällt wie jetzt Jonathan Tah und vermutlich Antonio Rüdiger: Macht nix! Kommen halt neue.

Nagelsmann redet Leistung gegen die Schweiz schön

Seine Botschaft an die Journalisten im Raum: Alles läuft, alles bestens! Er hat ja Recht. Zumindest auf den ersten Blick. Sieben Punkte aus drei EM-Spielen, 8:2 Tore und Gruppenerster: Was wollt Ihr mehr? Ich saß in dieser Pressekonferenz und dachte nur: War ich beim falschen Spiel?

Man will ja kein Spielverderber sein und in Erinnerung rufen, dass die Schweizer ein gewaltiges Gebirge aus Abwehrspielern im Strafraum errichtet hatten, das für die deutschen Spieler lange Zeit unüberwindbar schien. Das 1:1 fiel viel zu spät. Also Rückversicherung in der Statistik.

Nagelsmann hatte die deutsche Überlegenheit mit der Zahl der Torschüsse begründet. 19:4 seien es gewesen. Eine Zeile drunter steht aber bei den Torschüssen, die aufs Tor gingen, also gefährlich sind: drei für Deutschland, drei für die Schweiz. Das relativiert die erste Zahl gewaltig.

Ausländische Presse kritisiert DFB-Elf

Dann erreichten mich Ergebnisse der repräsentativen Umfrage vom Bundesliga-Barometer : Die 5.098 befragten Fans teilten Nagelsmanns Beurteilung nicht und gaben ihm und seinem Team die bisher schlechteste Schulnote beim Turnier: eine 2,7. Das ist eher „befriedigend“ als „sehr gut“.

Vorsichtshalber las ich, was das Ausland über das deutsche Spiel schrieb:

  • Die Gazzetta dello Sport (Italien) erkannte eine „Unfähigkeit, Chancen gegen tief verteidigende Gegner zu erspielen“.

  • Die L’Equipe (Frankreich) fasste den Auftritt als „schrecklich steril“ zusammen.

  • El Mundo Deportivo (Spanien) formulierte Zweifel, ob die „zuvor perfekt geölte Maschine wirklich leistungsfähig“ ist.

Nein, es gibt jetzt keinen Grund, den Kopf hängenzulassen. Deutschland steht im Achtelfinale der Heim-EM: So souverän und überzeugend, wie wir’s seit den WM-Blamagen von 2018 und 2022 kaum zu hoffen gewagt hatten. Ausdrücklich: Das haben wir Julian Nagelsmann zu verdanken!

Zwei Positionen stehen zur Debatte

Er darf alles - nur nichts schönreden: Natürlich ist unser Spiel noch nicht perfekt. Er muss jetzt die Innenverteidigung neu aufstellen, weil Tah (definitiv) und Rüdiger (wahrscheinlich) ausfallen, und Maximilian Mittelstädt klarmachen, dass David Raum der bessere Linksaußen ist.

Knackpunkt wird diese Woche der Sturm sein: Bleibt Niclas Füllkrug der beste Turnier-Joker, also draußen, oder darf er nach seinen zwei Toren von Beginn an Kai Havertz ersetzen? Nagelsmann kann uns nichts vormachen: Seine schwerste Arbeit bei der Heim-EM beginnt jetzt.

Bisher ist er immer gut damit gefahren, dass er uns Fans und Journalisten an den Überlegungen teilhaben ließ. Das machte Entscheidungen verständlicher und sammelte Kredit bei den notorisch kritischen Publikum. Zur Transparenz gehört auch die Wahrheit, was nicht gut gelaufen ist.

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