EVP-Vorsitzender Manfred Weber hat keine europäische Wehrpflicht gefordert

In der EU sind die Mitgliedstaaten selbst für ihre Verteidigung verantwortlich. Vor der EU-Wahl im Juni 2024 behaupteten der ungarische Premierminister Viktor Orban und ungarische Offizielle jedoch, Brüssel plane eine europaweite Wehrpflicht. Das habe der EVP-Vorsitzende Manfred Weber in einer TV-Debatte vorgeschlagen. Weber dementierte die Behauptung gegenüber AFP. Zudem hat die EU laut Verteidigungsexperten keine Kompetenz, eine solche Wehrpflicht einzuführen.

"'Die Idee einer europäischen Zwangsarmee ist verrückt'", zitiert ein Telegram-Beitrag vom 28. Mai 2024 die Reaktion des ungarischen Premierministers Viktor Orban auf die angebliche Äußerung des CSU-Politikers Manfred Webers zur Einführung einer europaweiten Wehrpflicht. Der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europäischen Parlament habe Anfang Mai 2024 vorgeschlagen, die Wehrpflicht in der gesamten Europäischen Union einzusetzen.

Die Behauptung wird auch auf Facebook sowie auf Ungarisch verbreitet.

<span>Telegram-Screenshot der Behauptung: 5. Juni 2024</span>
Telegram-Screenshot der Behauptung: 5. Juni 2024

Die Forderung Webers nach einer europaweiten Wehrpflicht kann jedoch nicht belegt werden.

Die ungarische Nachrichtenagentur V4NA veröffentlichte am 20. Mai 2024 einen Artikel mit der Überschrift "Brüssel will eine europäische Wehrpflicht einführen". Hinter V4NA stecken Viktor Orban nahestehende Personen, darunter Kristof Szalay-Bobrovniczky, der damalige ungarische Botschafter in Großbritannien und heutige Verteidigungsminister. Der jüngsten Offenlegung seines Vermögens von Januar 2024 zufolge wird er immer noch als "Mitglied" der Nachrichtenagentur gelistet.

Die Agentur – die zuvor bereits Falschinformationen verbreitete – behauptet auf ihrer Website, der EVP-Vorsitzende Manfred Weber habe in einem Interview über "die Idee der Einführung einer europaweiten Wehrpflicht" gesprochen. V4NA zufolge habe Weber gesagt, er sei ein starker Befürworter eines europäischen Wehrdienstes. Weitere ungarische Medien wiederholten die Behauptung, darunter die Zeitung der ungarischen Regierungspartei "Magyar Nemzet", der Nachrichtensender und die Website der ungarischen Staatsmedien sowie die regierungsfreundlichen Medien "Origo" und "Pesti Sracok".

Auch Premierminister Viktor Orban selbst verbreitete die Behauptung in einem Interview vom 26. Mai 2024 (hier archiviert). "Dieser gute EVP-Politiker Weber sagt, wir bräuchten eine europäische Wehrpflicht", sagte Orban. "Oh, also Sie, mein Freund, werden ungarischen Familien von Deutschland oder Brüssel aus sagen, dass sie ihre Söhne zur europäischen Armee entsenden sollen, und Sie erzählen ihnen, wo sie hingehen sollen", sagte Orban und zog Parallelen zum Zweiten Weltkrieg, als junge ungarische Soldaten unter dem Kommando der deutschen NS-Diktatur gegen die Sowjetunion kämpfen mussten. "Nein! Vergessen Sie es!"

Nach Orban wiederholte auch der ungarische Außenminister Peter Szijjarto die Behauptung während eines Aufenthalts in Belarus am 29. Mai 2024 (hier archiviert). Einige deutsche Beiträge in sozialen Medien zitieren den Minister mit der Aussage, die EU-Außenminister würden eine allgemeine Wehrpflicht diskutieren.

Vor der Wahl des Europäischen Parlaments vom 6. bis 9. Juni 2024 flutete die ungarische Regierung die sozialen Medien mit Falschinformationen (hier archiviert), die ihre Position zum Krieg in der Ukraine verstärkten. Orban, der als Putins engster Verbündeter in der EU gilt, versucht, sich als Anwalt von Friedensgesprächen zwischen der Ukraine und Russland zu inszenieren. In dem Zusammenhang stellt er die EU-Wahlen als Referendum des Krieges dar.

Manfred Webers Äußerungen

Tatsächlich äußerte sich Weber nicht zu einer "europäischen Wehrpflicht", sondern sprach über die Möglichkeit, die Wehrpflicht in Deutschland wieder einzusetzen. Der Agentur V4NA zufolge äußerte sich der EVP-Vorsitzende angeblich in einem Interview mit BR24 zu einer europaweiten Wehrpflicht. Durch eine Stichwortsuche fand AFP einen Artikel des Senders mit der Überschrift "Manfred Weber: 'Brauchen die europäische Atomwaffe'" (hier archiviert).

Dabei handelt es sich nicht um ein Interview, sondern um eine Zusammenfassung der Äußerungen Webers während einer Debatte am 8. Mai 2024 zwischen den bayerischen Kandidatinnen und Kandidaten für die EU-Wahl. Während des BR24-Talks sagte er: "Wir Europäer, das muss man klar sagen, sind heute nackt in einer Welt von Stürmen. Die Verteidigungsfähigkeit des Kontinents ist nicht da. Deswegen müssen wir erstens unsere Bundeswehr stärken." Die Wehrpflicht sehe er als einen "Zwischenschritt" und sei "ein Anhänger der allgemeinen Dienstpflicht, dass junge Menschen frei entscheiden dürfen, welche Art von Dienst sie machen". Dabei bezog er sich klar auf Deutschland und nicht auf die gesamte EU.

Er fuhr fort: "Wir brauchen jetzt den Einstieg in europäische Verteidigungsstrukturen. Wenn wir über Raketenschutzstrukturen reden, macht es doch Sinn, die nicht erst an der deutsch-polnischen Grenze abzufangen, sondern bereits an der polnisch-belarussischen Grenze abzufangen. Das heißt, wir würden als Deutsche am meisten davon profitieren, wenn wir jetzt gemeinsam investieren, auch in Cyber Defence." Anschließend erklärte Weber, er befürworte die Idee von europäischen Atomwaffen. Wenn Frankreichs Präsident Emmanuel Macron "die französische Atomwaffe den Europäern" anbiete, dann sei "das ein Angebot Frankreichs, über das wir reden müssen".

Weber sprach von Dienstpflicht in Deutschland

Ein Sprecher von Manfred Weber erklärte in einer E-Mail an AFP, dass Weber "nie eine europaweite Wehrpflicht gefordert" habe. "Die Frage der Wehrpflicht ist eine nationale, keine EU-Kompetenz", führte er am 31. Mai 2024 weiter aus. Weber habe über die "Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht" in Deutschland gesprochen, "bei der beispielsweise zwischen einem Militärdienst, einem Zivildienst oder auch einem Dienst im Katastrophenschutz gewählt werden kann". Was gewählt werde, entscheide jeder individuell.

Weber äußerte sich zudem gegenüber dem Magazin "Spiegel" am 4. Juni 2024 zu den Falschinformationen, die Orban verbreitete. "Viktor Orban setzt bewusst und immer wieder Falschnachrichten in die Welt, um seine politischen Gegner zu diskreditieren", sagte er. "Dies ist eines europäischen Regierungschefs unwürdig."

Die Wehrpflicht für Männer über 18 wurde 1955 in der BRD im Zuge der Wiederbewaffnung nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt. Wenn Männer den Wehrdienst verweigerten, mussten sie stattdessen Zivildienst leisten. Ein ähnliches System gibt es derzeit in Österreich, wo die Wehrpflicht weiter besteht. In Deutschland ist sie in Friedenszeiten seit 2011 ausgesetzt, aber nicht abgeschafft. Sie kann laut Grundgesetz im Verteidigungsfall wieder eingesetzt werden.

Die CDU, deren bayerischer Schwesterpartei CSU Manfred Weber angehört, hielt ihre Befürwortung eines Pflichtdienstes für die Gesellschaft in ihrem kürzlich erneuerten Grundsatzprogramm fest (hier archiviert). Die Regierung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) will nicht zu einem "Wehrdienst wie früher" zurückkehren, ist aber offen für eine Diskussion über ein neues Modell.

EU kann Wehrpflicht nicht einführen

Am 27. Mai 2024 wies der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell auf die Frage einer Journalistin der unabhängigen ungarischen Tageszeitung "Népszava" hin die Idee einer europaweiten Wehrpflicht zurück und erklärte, die EU habe nicht annähernd die Kompetenz, eine solche Entscheidung zu treffen.

"Die Europäische Union ist nicht in der Lage, eine allgemeine Wehrpflicht zu fordern. Wir sind weit entfernt davon, diese Art von Macht zu haben", erklärte er. "Das ist eine nationale Entscheidung. Ich lese in den Zeitungen, dass das Vereinigte Königreich darüber nachdenkt, die Europäische Union kann das jedoch nicht. Ich denke nicht einmal daran, weil es weit außerhalb unserer Kompetenzen liegt."

Entscheidung nur einstimmig in der EU möglich

Experten der europäischen Verteidigungspolitik erklärten gegenüber AFP zudem, ihnen sei kein solcher Plan bekannt. Sie betonten, dass ein derartiges Vorhaben nur umgesetzt werden kann, wenn sich alle Mitgliedstaaten einstimmig dafür aussprechen.

Der ehemalige Nato-Funktionär und heutige Professor für Strategie und Sicherheit an der University of Exeter Jamie Shea erklärte gegenüber AFP in einer E-Mail vom 29. Mai 2024, die EU habe "keine Autorität, ihren Mitgliedstaaten eine europäische Wehrpflicht aufzuerlegen". Eine solche Befugnis "taucht in keinem EU-Vertrag auf und die Zustimmung würde Einstimmigkeit der EU verlangen". Ungarn könnte also von seinem Vetorecht Gebrauch machen. "Wehrpflicht ist eine rein nationale Entscheidung", erklärte Shea weiter. In einigen EU-Ländern gebe es sie oder sei sie nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine wieder eingeführt worden. Die meisten Mitgliedstaaten setzten jedoch weiterhin auf "freiwillige, professionell ausgerüstete Armeen".

"Nicht einmal Artikel 5 des Natovertrags zum Bündnisfall verpflichtet zu einer automatischen Anwendung von militärischer Gewalt zur Verteidigung eines Verbündeten, sondern besagt nur, dass das möglich ist, wenn der Nato-Mitgliedstaat zustimmt", fügte Shea hinzu. Gemäß dieses Artikels sieht jeder Bündnispartner die Attacke auf einen Nato-Mitgliedstaat als einen Angriff auf alle Mitglieder an und "wird die Maßnahmen ergreifen, die er zur Unterstützung des angegriffenen Verbündeten für notwendig hält".

Der Vertrag von Lissabon enthält mit Artikel 42, Absatz 7 für die EU eine ähnliche Klausel zur gemeinsamen Verteidigung. Wie die Mitgliedstaaten sie interpretieren und welche Maßnahmen sie entsprechend ergreifen, bleibt ihnen überlassen, wie der Europäische Rat für Auswärtige Beziehungen online erklärt. Unterdessen wurde die vage Formulierung und der symbolische Charakter der Klausel bereits im Zusammenhang mit Russlands Annexion der Krim im Jahr 2014 kritisiert.

Ähnlich wie Shea argumentierte Ulrike Franke, leitende politische Mitarbeiterin im Europäischen Rat für Auswärtige Beziehungen, in einer E-Mail an AFP vom 3. Juni 2024 und erklärte in Bezug auf ein EU-Militär: "Dieser Begriff wird immer wieder diskutiert, er ist jedoch sehr unspezifisch und in keiner Weise ein konkreter Plan." In diesem Zusammenhang habe sie "noch nie von einer EU-Wehrpflicht gehört". Vor dem Hintergrund fehlender Kompetenz im Bereich der Verteidigung sei sie zudem überzeugt, dass es "absolut unmöglich" sei, dass "irgendeine EU-Institution die Macht" habe, eine Wehrpflicht einzuführen.

Die ungarische Faktencheck-Organisation Lakmusz widerlegte die Falschbehauptung ebenfalls.

Fazit: Der EVP-Vorsitzende Manfred Weber hat keine europäische Wehrpflicht gefordert. Seine Äußerungen zu einer Dienstpflicht in Deutschland wurde von der ungarischen Regierung im falschen Kontext wiedergegeben. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell und Verteidigungsexperten erklärten zudem, die EU habe gar nicht die Kompetenz, eine europäische Wehrpflicht einzuführen.