Gehört Israels Ministerpräsident Netanjahu vor den Internationalen Strafgerichtshof?

Ankläger will Prozess gegen Hamas und gegen Israels Premier – Die Vorwürfe sind schwerwiegend

Ein Kinderwagen vor einer Häuserwand in Tel Aviv im Mai: Die Mauer zieren Plakate mit von der Hamas entführten Israelis (Bild: REUTERS/Shannon Stapleton)
Ein Kinderwagen vor einer Häuserwand in Tel Aviv im Mai: Die Mauer zieren Plakate mit von der Hamas entführten Israelis (Bild: REUTERS/Shannon Stapleton)

Zeitgleich hat der Chefankläger in Den Haag mehrere Haftbefehle beantragt: Gegen die Terroristenchefs von der Hamas sowie gegen den Ministerpräsidenten und gegen den Verteidigungsminister der Regierung Israels. Nun ist der Aufschrei groß. Dabei sind die Hinweise auf Vergehen unübersehbar. Endlich beginnt die Justiz einen Job, bei dem die internationale Politik versagt.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Die Kommentare überschlagen sich. „Ein Angriff auf Israel“, titelte die „Bild“-Zeitung, und fand ihn im Fernsehen „öffentlichkeitswirksam“. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag sei „offenbar getrieben von seiner Eitelkeit“. Wenn wir dann mal den Schaum dieser Hobbypsychologie vom Mund wischen, bleibt von der Kritik nichts übrig.

Denn die Justiz schaut genau hin, sie agiert in einem politischen Raum, ist aber nicht Partei. Bei den Hamas-Terroristen drängt sich die Anklage, die nun von den Richtern geprüft werden wird, auf: Die Organisation hat aus dem Nichts heraus Israel planvoll angegriffen und mit den Attacken vom 7. Oktober 2023 in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Menschen möglichst brutal ermordet und dann auch noch Hunderte entführt.

Dass die israelische Regierung zurückschlug, war zwangsläufig und vom Völkerrecht gedeckt. Doch seit vergangenem Herbst türmen sich die Fragen. Denn es gibt Hinweise darauf, dass die Streitkräfte bei ihrem Kampf gegen die Hamas zu wenig Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nehmen und sie gar als Teil der Kriegsführung gezielt aushungern. Die Menschen werden mal hierhin, mal dorthin getrieben – und immer wieder kommen sie unter die Räder einer Kriegsmaschinerie, die gerade Gaza in eine Trümmerwüste verwandelt. Die Verhältnismäßigkeit der Antwort auf die Terrorgräuel der Hamas ist nicht zu erkennen; und dies auch trotz der perfiden Strategie der Terroristen, sich unter der Zivilbevölkerung zu verstecken. Denn dies bedeutet nicht, dass Menschenrechte dann nicht mehr gelten.

Daher ist Premier Benjamin Netanjahu selbst schuld. Welchen Plan er mit Gaza verfolgt, legt er nicht offen. Aber gut kann dieser, das lässt sich nun feststellen, nicht sein. Und es ist völlig egal, ob der Eindruck entsteht, mit der zeitgleichen Anklageerhebung würden die Hamasbosse und demokratisch gewählte Politiker einer Regierung gleichgesetzt. Der Justiz in Den Haag geht es nämlich nicht um Eindrücke, sondern um Fakten.

Israels Ministerpräsident Netanjahu (Bild: dpa)
Israels Ministerpräsident Netanjahu (Bild: dpa)

Und gilt es nun zu sammeln und zu bewerten. Die Politik hat hierbei versagt. Seit unzähligen Wochen mahnen zum Beispiel die Regierungen in Washington D.C. und in Berlin, die israelische Regierung möge bei ihrer Antwort nicht dies oder das tun, etwa eine massenhafte Invasion Rafahs doch nicht realisieren, wohin sich eine Million Menschen geflüchtet hatten. Doch die Reaktion aus Tel Aviv besteht bis heute aus zugehaltenen Ohren. Der Druck war bisher viel zu schwach, um Netanjahu davon zu überzeugen, dass sein Handeln nicht massiv die Menschenrechte aushebeln sollte. Daher nun die Quittung durch die Justiz.

Israel sei doch ein demokratisches Land, heißt es nun von den Kritikern, mit unabhängigen Gerichten. Das stimmt. Aber es macht keinen Sinn, abzuwarten, ob diese nun selbst gegen Netanjahu wegen möglicher Verbrechen in Gaza ermitteln. Denn dies ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Die Gerichte sind derzeit damit beschäftigt, ihn wegen anderer Vorwürfe wie Korruption zur Rechenschaft zu ziehen. Und eine breite Debatte in der Gesellschaft und in der Justiz, ob mögliche systematische Vergehen in Gaza aufgearbeitet werden sollen, erkenne ich leider nicht.

Daher ist das Vorgehen des Chefanklägers zu begrüßen. Außerdem ist damit längst nicht gesagt, dass es auch zu einem Gerichtsverfahren kommt, dass es Haftbefehle geben wird. Dieser gestern gegangene Schritt ist nicht antisemitisch, sondern folgerichtig.