Kolumne von Susan Arndt - Ostdeutschland-Bashing geht mir auf die Nerven – viele Ostdeutsche aber auch

FOCUS-online-Kolumnistin Susan Arndt (l) und das Grenzdenkmal in Hötensleben, Sachsen-Anhalt.<span class="copyright">privat; Matthias Bein/dpa</span>
FOCUS-online-Kolumnistin Susan Arndt (l) und das Grenzdenkmal in Hötensleben, Sachsen-Anhalt.privat; Matthias Bein/dpa

Wann ist man „ostdeutsch“? Getrieben zwischen dem Wunsch, sich für ostdeutsche Interessen einzusetzen und der Scham, ostdeutsch zu sein, reflektiert FOCUS-online-Kolumnistin Susan Arndt die Identität und Diskriminierung. Sie sagt, sie wurde zur Ostdeutschen gemacht, ohne jede Macht, sich dem zu entziehen.

Bei aller Diversität der Biografien gibt es Erfahrungen, die Ostdeutschen mehrheitlich vertraut sind, und jenen, die in der alten Bundesrepublik geboren und sozialisiert wurden, nicht. Es gibt kaum einen Lebensbereich, der nicht vom Alltag in einer Diktatur geprägt wäre und davon, dass diese Freiheit, Individualität und Wahrheit nicht leiden kann und entsprechend sanktioniert.

Ostdeutsch ist aber nicht allein an Erfahrungen gebunden, welche die DDR zu verantworten hat, sondern auch dadurch geprägt, wie die Revolution von 1989 gestaltet, die deutsche Einigung vollzogen wurde und sich die Transformation gesellschaftlich und individuell auswirkte. Genau genommen steckt im Ostdeutsch-Sein Migration einer eher selteneren Art: Menschen verlassen nicht den Ort, aber der Ort verlässt sie, wird ein anderer.

Und obwohl das gleiche Haus an der gleichen Ecke steht, ist alles in einer neuen Zeit angekommen. Voller Möglichkeiten, die vorher verbaut waren. Aber verbaut ist auch das Herkunftsland. Irreversibel unbetretbar. Mehr noch. Das Land der Kindheit, der ersten Liebe, der ersten Wunden: Es ist weg, mitsamt seinen Gerüchen, Geschmäckern und Momenten, in denen Ostdeutsche trotz der Diktatur auch heil waren.

Und obwohl die Diktatur überwunden ist, ist nicht alles in Ordnung. Das wird durch eine zweite, Migration oft anhaftende, Erfahrung bedingt: Das neue Land hatte Ostdeutsche vor 1989 nicht geschätzt und nach 1989 trotz des deutschen Passes nicht als vollwertiges Mitglied empfangen.

Die Macht, sich als deutsche Norm zu sehen, ist nur Westdeutschen zugänglich

Das drückt sich schon in der Formulierung „Neue Bundesländer“ aus. Alt meint jene, die schon immer da waren, und setzt sie auch als rechtmäßig Zugehörige, als Norm. Wer später kam, bleibt der Andere, gehört nicht dazu.

Ein Beispiel für diese Schieflage ist die Frankfurt-Frage. 1989 sprachen Ostdeutsche wie Westdeutsche nur von Frankfurt und meinten jeweils „das ihrige“. Am Ende setzte sich aber durch, von Frankfurt und Frankfurt/Oder zu sprechen. Frankfurt/Main ist Frankfurt, das andere Frankfurt ist das, das dazu sagen muss, dass es an der Oder liegt. Weil es das andere Frankfurt ist.

 

Würden Ostdeutsche Frankfurt sagen und Frankfurt/Oder meinen und das Weglassen von „an der Oder“ mit einem „Na und?“ begründen können? Nein. Das ist eben der Unterschied zwischen Ost und West. Die Macht, sich als deutsche Norm zu sehen, ist, strukturell gesehen, nur Westdeutschen zugänglich.

Entsprechend sehen sich 76 Prozent der „Westdeutschen“ als einfach nur deutsch an, während sich 40 Prozent aller Ostdeutschen eher „ostdeutsch“ als „deutsch“ verorten. Das ist eng damit verschränkt, dass sich mindestens die Hälfte der Ostdeutschen als „Bürger zweiter Klasse“ fühlen.

Das alles bündelt sich im „Ostdeutschsein“. Am Ende also ist „ostdeutsch“ nicht einfach ein geografisch und kulturell geprägter Erfahrungsraum, sondern eine machtkodierte Position und Identität. Das ist keine abstrakte Sache, sondern lässt sich etwa auch ökonomisch festmachen.

Transformationsjahre lösten Versprechen blühender Landschaften nicht ein

Die Transformationsjahre lösten das Versprechen blühender Landschaften nicht ein. Die zerrütte DDR-Wirtschaft und der harte Transformationsprozess stellen Ostdeutschland vor enorme soziale, kulturelle und mentale Herausforderungen. Arbeitslosigkeit ging mit Umschulungsmaßnahmen einher, die Flexibilität und Mobilität erforderten.

Viele mussten umziehen und an anderen Orten neu anfangen. Angestammte Familienstrukturen und Freundeskreise wurden auf Proben gestellt oder gingen zu Bruch. Gleichzeitig übervorteilte der Elitenaustausch oder die Treuhand-Maßnahmen alt-bundesdeutsche Personen und Firmen.

Das Ankommen in der bundesdeutschen Demokratie wurde zudem von der dringend notwendigen Aufarbeitung der SED-Diktatur begleitet. Obwohl diese vor allem von ostdeutschen Personen betrieben wurde, herrschte insgesamt ein Klima vor, in dem viele im Westen Ossis pauschal als „verzwergt“ und demokratieunfähig verdammten.

Diese Gemengelage hat Ilko-Sascha Kowalczuk 2019 in seinem Buch „Die Übernahme“ in gebotener Tiefe und Schärfe kritisiert. 2023 griff Dirk Oschmanns Buch „Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“ viele von Kowalczuks Thesen auf. Anders als Kowalczuk, der weder in der DDR bis 1989 noch in der Bundesrepublik ab 1989 mit seiner Kritik an der SED-Diktatur oder der westdeutschen Übernahme der ostdeutschen Gesellschaft hinter dem Berg hielt, hat Oschmann bis 2023 opportun gelebt. So wie ich.

Die Möglichkeit, die eigene ostdeutsche Herkunft zu vernebeln

Beide kommen wir aus einem ostdeutschen Arbeiter*innenhaushalt und studierten ab 1986 Deutsch und Englisch, um Lehrer*innen in der DDR zu werden. Am 9. November 1989 waren wir beide 21 Jahre. Zu jung, um im SED-System schon zu angekommen zu sein; und jung genug, um richtig durchstarten zu können.

Oschmann bekam ein Fulbright Stipendium und studierte in Buffalo, USA. Ich bekam Stipendien vom DAAD und studierte in London, Großbritannien. Dann schrieben wir beide unsere Doktorarbeiten - Oschmann finanziert durch ein Stipendium der evangelischen Stiftung Villigst und ich durch die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung. Letztere hatte, ebenso wie die VW-Stiftung, mit deren Stipendium ich als junge Wissenschaftlerin nach Oxford ging, ein spezielles Programm für Ostdeutsche angelegt.

Oschmann und ich genossen also enorme Privilegien im vereinten Deutschland und wurden 2010 bzw. 2011 Professor*innen. Beide berichten wir in unseren Büchern davon, wie wir von der Möglichkeit profitierten, die eigene ostdeutsche Herkunft vernebeln zu können.

Jeder Versuch einer Verleugnung ist immer auch ein Stück Selbstaufgabe

Jahrzehntelang war ich der Meinung, dass ich nie wieder über die DDR und meine Zugehörigkeit zu ihr nachdenken würde. Dahinter stand mein Versuch, sie hinter mir zu lassen. Ich habe die DDR nicht geliebt, sondern gefürchtet. Sie hatte mich erdrückt. Und auch nach 1989 war es mir peinlich, Ostdeutsche zu sein. Ich wollte einfach nichts mit den Bananen- und Nazi-Ossis zu tun haben und deswegen tat ich so, als gehörte ich nicht dazu.

Doch jeder Versuch einer Verleugnung ist immer auch ein Stück Selbstaufgabe, die letztlich nach hinten losgeht. Das Verleugnen der ostdeutschen Identität schützt beispielsweise keineswegs davor, mit Ossis angedichteten Stereotypen, Sprüchen oder Erzählungen diskriminiert zu werden.

Je mehr ich als Wessi durchging, umso mehr passierte mir dies. Denn ich hörte mehr davon. Und wenn ich versuchte, mich nicht angesprochen zu fühlen, fühlte ich mich nur umso schutzloser mitgemeint bei dem, was über Ostdeutsche behauptet wurde und wird.

Manchmal reagiere ich mit Fremdschämen, manchmal spüre ich den Druck, dass, wenn ich als Ostdeutsche gelesen werde, ich automatisch Ostdeutschland repräsentiere. Eine für alle. Und wollte es entsprechend beschützen, verteidigen, ehrenretten.

Zur Ostdeutschen gemacht, ohne jede Macht, mich dem zu entziehen

1990 fuhr ich etwa im ICE und vor mir kaufte ein Mann mit sächsischem Dialekt eine Sprite. Er bestellte sie ausgesprochen als SPRIETE. Der Speisewagenmitarbeiter machte sich darüber lustig, indem er auch SPRIETE sagte. Ich wollte gar keine Sprite kaufen, bestellte sie dann aber, um den Namen des Getränks Englisch auszusprechen. Dann gab ich mich als Ossi zu erkennen.

Solche Situationen wiederholten sich immer wieder. Beim Anglistentag im Jahr 2002 wurden beim Abschiedsdinner ununterbrochen Ossi-Witze und -Anekdoten erzählt. Als ich mich dann irgendwann als Ossi zu erkennen gab, folgte ein kurzes betretenes Schweigen und dann der Spruch: „Sieht man dir nicht an.“

Angesprochen fühlte ich mich dennoch. Unabhängig davon, ob das betreffende Stereotyp in das eigene Selbstbild passt. Ich war längst zur Ostdeutschen gemacht worden, ohne jede Macht, mich dem zu entziehen. Am Ende bin ich weniger wegen meines Geburtsortes zur Ossi geworden als vielmehr, weil Diskriminierungsmuster Ostdeutsche kollektiv positionieren. Westdeutsche Diskriminierung gegenüber Ostdeutschen ist der Brennstoff der ostdeutschen Identität.

Erfahren von Diskriminierung: nur eine Seite ostdeutscher Identität

Trotz alledem. Und deswegen: Das Erfahren von Diskriminierung ist nur die eine Seite der ostdeutschen Identität. Sich zu dieser zu verhalten, die andere. Im Angesicht der westdeutschen Diskriminierung gegenüber Ostdeutschen kann ich mich hilflos fühlen oder ängstlich, ich kann mich empören oder ärgern. Manchmal fühle ich alles auf einmal.

Dennoch kann ich mit Ostalgie – also nostalgischen Erinnerungen, die positive Erfahrungen in der DDR überproportional verstärken – ganz und gar nichts anfangen. Denn es verharmlost die Diktatur.

Deswegen kann ich auch mit Oschmanns Buch nichts anfangen. Er gibt dem Westen an allem Schuld, als seien Ostdeutsche keine handelnden Menschen. Sie selbst waren es doch, die im März 1990 Kohl auf den Thron wählten und damit für den Beitritt in die Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes stimmten.

Das spielt bei Oschmann ebenso wenig eine Rolle, wie dass Ostdeutsche beim Ankommen im Westen nicht zusammenhielten. Sie setzten auf Ellbogen und Assimilation – das hatten sie in der SED-Diktatur bereits gelernt.

Auch finde ich, anders als Oschmann, dass Ostdeutsche einfach auf hohem Niveau und dafür viel zu laut jammern. Auch wenn Ostdeutsche ökonomisch gesehen ärmer sind als Westdeutsche – so steht doch ihre Lebensqualität und ihr Bruttoinlandsprodukt weit über dem der meisten anderen europäischen Länder.

Im globalen Vergleich thront Ostdeutschland sogar noch deutlicher über dem Durchschnitt. Natürlich trägt ein Wettkampf sozialer Benachteiligung nicht weit, weswegen ich den Ostdeutschen ihr Dauermeckern letztlich auch nicht vorhalten möchte.

Was ich Ostdeutschland nicht durchgehen lasse

Was ich Ostdeutschland aber überhaupt nicht durchgehen lasse, ist, dass sie ihre Unzufriedenheit in völlig unsinnigen politischen Hass schleudern. Zu diesen Fehlpässen gehört es, das putinistische Russland, das die eigene Bevölkerung ebenso wenig wertschätzt wie die Ukraine und das den Frieden in Europa bedroht, als heile Welt zu preisen.

Und wenn Dresdner Fußballfans im Gleichschritt laufend „Ost-, Ost-; Ostdeutschland“ skandieren, wollen sie dann wirklich wieder in der DDR leben? Und wie viel Sinn macht es dann noch, sich als Unterstützung für die bundesdeutsche Fußballmannschaft das Westauto in Deutschlandflaggen zu ertränken – obwohl sie sich daran stören, dass der Nationalmannschafts-Kader der demografischen Diversität unseres Landes entspricht.

Und überhaupt: Wieso lässt das migrantische Ostdeutschland seinen ganzen Frust über den „Westen“ ausgerechnet an „Migranten“ aus?

Wegen dieser Einstellungen schäme ich mich, Ostdeutsche zu sein. Doch ist das nicht absurd? Denn die Mehrheit der Ostdeutschen sieht das so wie ich. Wie gerne würde ich sagen, ich bin stolz, ostdeutsch zu sein. Doch das kann ich nicht. Denn in diesen Tagen klänge es nach faschistischer Osttümelei.

Deswegen will ich mir mein Ostdeutschsein zurückholen. Ich will nicht länger wegschauen und es hinnehmen. Hinnehmen will ich weder die AfD-Ostdeutschen noch die Westdeutschen, die mich mit diesen in einen Topf werfen. Ich will als Ostdeutsche in meiner Individualität gesehen werden; ich will, dass Machtgefälle und Diskriminierungsmuster endlich gesehen und ernst genommen werden; ich will, dass Westdeutsche ihre Rolle bei der Erfindung Ostdeutschlands anerkennen – und Ostdeutsche, was sie durch die Freiheitsrevolution von 1989 gewannen.

Und dann, ja dann, dann kann und will ich sagen: Ich bin Ostdeutsche und das ist auch gut so. Und wenn das viele Ostdeutsche sagen können, dann kann sich Ostdeutschland noch mal neu aufstellen; dann kann Ostdeutschland sich noch mal neu erfinden. Und Deutschland insgesamt anerkennen, dass Debatten um Leitkultur und Remigration an der gelebten deutschen Diversität vorbeiführen.