Reise endete als Horror-Trip - „In der Türkei die Hölle gesehen“: Wie ein deutsches Paar im Abschiebegefängnis landete

Gabriela Wimmer mit drei freundlichen türkischen Polizisten im Erdbebengebiet.<span class="copyright">privat</span>
Gabriela Wimmer mit drei freundlichen türkischen Polizisten im Erdbebengebiet.privat

Spontane Hilfe im Erdbebengebiet der Türkei an der Grenze zu Syrien ist für ein deutsches Urlauber-Ehepaar zum Albtraum geworden. 40 Tage saßen sie in Abschiebehaft, der Mann soll von Wärtern geschlagen worden sein. Das Paar machte zudem erschreckende Beobachtungen in dem Gefängnis, das von der EU kofinanziert wird.

„Niemals“, sagt Walter Wimmer, „niemals“ hätten seine Frau Gabriela und er sich vorstellen können, wie eine elfmonatige, freiwillige Hilfe im Erdbebengebiet der Türkei an der Grenze zu Syrien enden würde. Und zwar mit insgesamt 40 Tagen Haft in zwei Abschiebegefängnissen.

Wimmer, 57, war am 6. Februar 2023 mit seiner Frau in der Türkei bereits seit einiger Zeit mit dem eigenen Wohnmobil unterwegs, als in mehreren Gegenden des Landes die Erde heftig zu beben begann - und 53.000 Menschen nach offiziellen Angaben ihr Leben verloren. „Wir hatten zuvor viele wunderbare Menschen in der Türkei kennengelernt und spontan beschlossen, zu helfen und nach Antakya zu fahren. Die Stadt an der Grenze zu Syrien war besonders stark betroffen“, erinnert sich Wimmer im Gespräch mit FOCUS online.

Das Paar war bis 2022 selbstständig gewesen, betrieb eine Teppichreinigungsfirma im Raum Passau. Doch Corona habe das Geschäft kaputtgemacht, so der Niederbayer. Und so hätten sie ihre Wohnung in Bayern aufgelöst und eine Europa-Tour begonnen. Um zu reisen – und zu sehen, ob sich irgendwo anders eine neue Zukunft aufbauen ließe. „Niemand hat auf uns gewartet in Deutschland. Also sind wir geblieben und haben geholfen, aus Dankbarkeit für die vielen netten Türken, die wir zuvor kennengelernt hatten.“

Walter und Gabriela Wimmer mit einem türkischen Soldaten.<span class="copyright">privat</span>
Walter und Gabriela Wimmer mit einem türkischen Soldaten.privat

 

Türkei: Mit verspäteter Visa-Bitte beginnt für Bayern-Paar ein Albtraum

Kurz vor Weihnachten habe das Paar dann beschlossen, zum Fest zurück zur Familie nach Deutschland zu fahren. Das Problem: Die 90 Tage, die sich Touristen ohne Visa in die Türkei aufhalten können, waren längst abgelaufen. „Polizisten hatten uns mehrfach bei Kontrollen darauf hingewiesen. 'Ist nicht so schlimm, ihr helft ja', haben sie immer wieder gesagt.“ Aber sie hätten die Angelegenheit vor der Rückreise klären wollen, um „Ärger an der Grenze“ zu vermeiden.

Ein Toter bei Bombenanschlag vor Polizeiwache im südtürkischen Gaziantep<span class="copyright">Google Maps</span>
Ein Toter bei Bombenanschlag vor Polizeiwache im südtürkischen GaziantepGoogle Maps

Ein erster Versuch am 18. Dezember, beim Gouverneur wegen der Visa in Antakya vorsprechen, sei gescheitert. In der Nacht zum 19. Dezember seien die beiden dann in ihrem Wohnmobil von einer bewaffneten Einheit in Zivil geweckt worden, sagt Wimmer. Und dann habe für das Paar ein Leidensweg begonnen.

Erst freundlich, dann Schläge bei Verhören

Den 19. und 20. Dezember seien sie immer wieder von verschiedenen Personen verhört worden, so Wimmer. Die Nachtschicht, die sie verhaftet habe, sei freundlich gewesen. Nach einem Schichtwechsel und einem Besuch im Krankenhaus, den Wimmer wegen seiner Diabetes- und Corona-Folgeerkrankungen einschieben musste, habe sich das Blatt jedoch schlagartig gewendet. „Die Stimmung wandte sich plötzlich gegen uns, alle waren unfreundlich.“

Zwar sei ihnen von der Frühschicht ein Besuch beim Gouverneur in Aussicht gestellt worden. Doch der Besuch sei nach der Untersuchung im Krankenhaus dann verwehrt worden. Stattdessen hätten dann brutale Verhöre begonnen. „Meine Frau und ich wurden mehrfach geschubst, mit Fäusten in den Bauch geschlagen. Man drohte uns sogar, uns Spionage vorzuwerfen und dass wir 'bald bei den Engeln' sein würden.“ Zudem sei das Auto sei beschlagnahmt worden - „und damit alles, was wir noch besaßen“, so Wimmer.

Bevor seiner Frau das Handy weggenommen worden sei, war es ihr beim Abstecher ins Krankenhaus gelungen, die Tochter zu alarmieren, dass sie verhaftet worden seien und die Tochter die deutsche Botschaft in Ankara informieren solle. „Nachdem wir den Türken elf Monate lang geholfen hatten und dann geschlagen und verhaftet worden waren, verstanden wir die Welt nicht mehr. Wir und unsere Tochter hatten absolute Panik“, so Wimmer. Am Abend des 20. Dezember seien sie schließlich in einem Polizeiwagen abtransportiert worden.

Gabriela Wimmer mit drei türkischen Gendarmen vor ihrem zu einem Wohnmobil umgebauten Transporter.<span class="copyright">privat</span>
Gabriela Wimmer mit drei türkischen Gendarmen vor ihrem zu einem Wohnmobil umgebauten Transporter.privat

 

Urin und Exkremente in Bettlaken, kein Klopapier

Das Ehepaar sei dann am 20. Dezember von einer Polizeistation in Antakya nach Gaziantep gebracht worden - in eines von insgesamt landesweit 30 „Rückführungszentren“, wie Abschiebegefängnisse in der Türkei offiziell genannt werden. Es liegt etwa 40 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Sie wurden errichtet für die „irreguläre Migration“ vor allem aus dem Nahen Osten und Anrainerländern. 2023 sollen allein 150.000 Menschen abgeschoben worden sein - von rund 3.3 Millionen Flüchtlingen, die sich laut dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR im vergangenen Jahr in der Türkei aufhielten.

Was die Eheleute dort erleben, jagt ihnen noch immer Schauer über den Rücken. „Auf den Laken der Betten waren Spuren von Exkrementen, Urin und Blut zu sehen, es roch entsprechend. Ein Zimmer mit nur sechs Betten mussten sich 16 Leute teilen. Wir haben insgesamt vier Wochen in denselben Klamotten gesteckt, die wir nur einmal notdürftig mit Wasser waschen konnten.“ Noch viel schlimmer sei aber gewesen, dass die Eheleute getrennt untergebracht wurden. „Die Ungewissheit, wie es dem anderen geht, war grauenvoll.“

Das dringend benötigte Insulin und auch Antibiotika für eine heftige Atemwegsinfektion seien ihm zwei Wochen verwehrt worden, so der 57-Jährige. „Ich hatte immer wieder zuckerkomaähnliche Symptome, einige Wärter haben sich darüber lustig gemacht.“ Dann habe aber ein anderer dafür gesorgt, dass er zur Untersuchung in ein ziviles Krankenhaus gebracht wurde. Er habe im Anschluss erste Insulin-Dosen erhalten – „ohne jedoch messen zu können, wie viel ich benötige“.

„Wir haben in der Türkei die Hölle gesehen“

Zwar sei es ihnen nach rund anderthalb Wochen gewährt worden, dass sie alle zwei Tage für etwa drei Minuten mit der Tochter telefonieren können. Die habe sich dann gekümmert, Hilfe über die deutsche Botschaft in Ankara zu organisieren. Ein direkter Kontakt zur Botschaft sei ihnen verwehrt worden.

Doch auch nach einer Verlegung nach rund einem Monat in ein anderes Abschiebegefängnis in die Provinz Sanliurfa, das noch stärker überfüllt gewesen sein soll, blieb die Ungewissheit über die Zukunft der größte Albtraum der Wimmers. „Wir wussten nicht, ob man uns noch mal Gewalt antut, wir wussten nicht, wie lange wir dort bleiben würden. Immer wieder hieß es, 'ein, zwei Tage noch, dann kommt ihr raus', doch nichts passierte. Wir haben in der Türkei wirklich die Hölle gesehen.“

Folter, Überbelegung, miese Versorgung: Kritik an Menschenrechtslage in türkischen Gefängnissen

Zu ihrem Entsetzen entdeckten die Wimmers Hinweise in den Abschiebegefängnissen, dass diese Einrichtungen von der EU mitfinanziert werden. Seit 2008 sollen laut dem ARD-Magazin „Panorama“ , das zuerst über das Schicksal der Wimmers berichtete, rund 200 Millionen Euro geflossen sein. Im Gegenzug hat sich die Türkei verpflichtet, für einen „sicheren und würdigen Rücksendeprozess“ von Flüchtlingen zu sorgen.

Der Einblick, den die Wimmers während ihrer 40 Tage andauernden Haft in die Abschiebegefängnisse bekamen, gilt als äußerst selten. Informationen über die Haftverhältnisse zu bekommen ist selbst auf EU-Ebene schwierig. Obgleich eine EU-Delegation vor einem Jahr Kontrollbesuche in den beiden genannten Abschiebegefängnissen absolviert hatte, rückte die EU-Kommission die Ergebnisse zunächst nicht raus, da dafür ein „gesondertes Prüfverfahren“ nötig sei, hieß es.

Menschenrechtsorganisationen bemängeln schon seit langem die Zustände in den Gefängnissen. Und dabei geht es nicht nur um Überbelegung und schlechte medizinische Versorgung, sondern auch immer wieder um Gewalt, Folter und eingeschränkter Kontrolle von außen.

Türkische Botschaft reagiert bislang nicht auf Vorwürfe

Am 25. Januar wurden den Wimmers dann Notpapiere von der deutschen Botschaft in Ankara ausgestellt, da sich die Original-Papiere im Wohnmobil befanden, das wie die Papiere bis heute verschwunden bleibt. Einen Tag später, am 26. Januar, seien er und seine Frau nach einem fast anderthalb Monate dauernden Martyrium dann endlich von einer Polizeieinheit nach Ankara gebracht und dort in einen Flieger nach Deutschland gesetzt worden.

„Wir sind froh und danken Gott, dass wir lebend nach Deutschland zurückgekommen sind. Unsere Familie hilft uns mit dem Notwendigsten. Aber durch die Beschlagnahmung ist uns unser letztes Gut genommen worden“, ärgert sich Walter Wimmer.

Die türkische Botschaft in Deutschland reagierte auf eine Anfrage von FOCUS online zum Grund der 40-tägigen Abschiebehaft, den Vorwürfen der Gewalt und schlechten medizinischen Versorgung sowie dem beschlagnahmten Wohnmobil bislang nicht.