Unhöfliche Gastronomie: Würden Sie dafür bezahlen, beim Essen beleidigt zu werden?
"Was wollen Sie jetzt schon wieder?", sagt die Kellnerin vor Karen's Diner finster.
Dies ist ein Restaurantkette wie keine andere - wo die Bedienung absichtlich unhöflich zur Kundschaft ist - und die Gäste offenbar gerne dafür zahlen.
Eine Gruppe von Kund:innen, hin- und hergerissen zwischen Angst und Neugier, huscht in die neueste Filiale der Kette im Norden Londons. Im Laufe des Abends werden Speisekarten auf die Kund:innen geworfen, Veganer öffentlich beschämt und eine Reihe von peinlichen Mutproben gestellt.
Das 'ungastliche' Geschäft
"Ich sage gerne, dass wir eher in der ungastlichen als in der gastfreundlichen Branche tätig sind", lacht Paul Levin, Leiter von Karen's Diner für Großbritannien und Europa. "Wir sind die einzige Restaurantkette der Welt, zu der die Leute nicht wegen des Essens kommen, sondern weil sie es lustig finden.
Mit mehr als 1,4 Millionen Followern auf TikTok sind die sozialen Medien der Schlüssel für das Marketing der Kette. Die meisten viralen Videos auf der Plattform zeigen ahnungslose Großeltern und Freunde, die bei ihrem Besuch im Restaurant einer Flut von Beleidigungen ausgesetzt sind.
“Erstaunlich viele Familien kommen hierher zum Essen, aber sie müssen wissen, was sie erwartet. Wir machen uns keine Sorgen um die Kinder, sondern eher um die meckernden Eltern."
https://www.tiktok.com/@karensdinerofficial/video/7155969706418015489
Was ist eine 'Karen'?
Karen's Diner zitiert "Karen", die Karikatur einer privilegierten weißen Frau mittleren Alters, die 2018 in den sozialen Medien viral ging. “Karen" bezieht namentlich sich auf amerikanische Babyboomer, die in den 1960er Jahren geboren wurden - eine Zeit, in der dieser Vorname in den Vereinigten Staaten sehr beliebt war.
"Ich könnte Ihnen leicht beibringen, eine Karen zu sein: niemals lächeln, finster dreinschauen und sich über alles lustig machen", so Levin gegenüber Euronews Culture. Das Personal hier ist zuerst Kellner:in - und dann Schauspieler:in. In Karen's Diner sind die meisten Kellner Frauen, denn "es kommt besser an, wenn eine Frau oder ein eher softer Mann eine Karen spielt, als wenn ein bedrohlich wirkender Mann, der die Kunden beschimpft", betont er.
"’Karen’ tauchte ursprünglich auf dem ‘Black Twitter’ auf und bezieht sich auf privilegierte weiße Frauen, die als rassistisch und eingebildet wahrgenommen werden. Es ist auch eine Karikatur einer Frau, die sich beschwert, wenn sie nicht den Service bekommt, den sie erwartet", erklärt Professor Diane Negra, Expertin für Film und Kultur am University College Dublin.
Ein sicherer Hafen gegen "Wokeness”?
Heute Abend trägt der 25-jährige Jack einen goldenen Partyhut. Als er einer Kundin einen Veggie-Burger bringt, läutet er eine Glocke, die den Beginn eines erniedrigenden Rituals signalisiert. Er schreit in ein Megaphon und befiehlt der Kundin, aufzustehen, während er sie beschuldigt, "woke" zu sein. Er bringt den Raum in Aufruhr und fordert die anderen Gäste auf, ihm zu folgen, während er der Frau den Mittelfinger zeigt und "f*** you veggie!" schreit. Trotzdem ist der Tonfall locker - die Frau und die anderen Gäste lachen.
"Das Lokal zieht Kund:innen an, die einen sicheren Ort suchen, um gegen die politische Korrektheit zu rebellieren", sagt Professor Negra.
‘Karen’ ist jedoch auch zu einer sexistischen und altersdiskriminierenden Karikatur geworden, so Professor Negra: "Der Begriff wurde in seiner ursprünglichen Verwendung sehr populär und hat sich dann erweitert. Er ist damit auch zu einem Werkzeug des Patriarchats geworden, mit dem weiße Frauen mittleren Alters, die es wagen, sich zu beschweren oder ihre Autorität zu behaupten, diskreditiert werden, indem man sie als hysterisch abstempelt", gibt Professor Negra zu Bedenken.
"Die Qualität des Kundendienstes sinkt immer mehr, und ‘Karen’ saugt die Wut auf, die die Kund:innen sonst an die Unternehmen richten würden. Restaurants, Banken und Krankenhäuser verlangen zunehmend, dass die Kunden ihre Aufgaben selbst erledigen, und die Unternehmen sind zu Experten darin geworden, den Kundendienst auszuschalten".
Trotz der Grenzüberschreitungen des Restaurants wird eine Liste von Hausregeln auf eine Tafel gedruckt und den Kunden bei ihrer Ankunft vorgelegt. Homophobie, Diskriminierung und Rassismus werden nicht geduldet - und wenn Kund:innen oder Mitarbeiter:innen sich nicht daran halten, werden sie zunächst verwarnt, bevor eventuell gebeten werden, das Restaurant zu verlassen. Bei Karen's ist immer ein Manager ‘in Zivil’ vor Ort - das einzige Mitglied des Personals, das keine Rolle zu spielen hat.
Wird das Personal geschützt?
"Sie nennen mich den Chihahua, ich bin weniger aggressiv als die anderen Kolleg:innen", erklärt Hannah, eine 22-jährige Kellnerin. Trotz ihrer sanften Art erklärt sie, dass die Mitarbeiter hier ein dickes Fell haben müssen: "Ich nehme es nicht übel, wenn mich jemand beleidigt, ehrlich gesagt ist es mir egal. Das gehört zum Job, aber wenn man empfindlich ist, ist es schwer, hier zu arbeiten".
"Wir sehen ‘Karens’, die von der Geschäftsleitung nach ein paar Schichten fallen gelassen werden, weil sie nicht die richtige Dynamik mit den Kunden haben. Wenn ich sehe, dass es den Leuten nicht gut geht, lasse ich sie in Ruhe", sagt Hannah, bevor sie mit einer Bewegung ihrer Zöpfe wieder in ihre Rolle schlüpft: "Okay, sind das jetzt alle deine Fragen, lässt du mich jetzt endlich in Ruhe?"
Aber kann man nicht auch zu weit gehen? In einem Interview mit dem öffentlich-rechtlichen australischen Sender ABC schilderten mehrere ehemalige Mitarbeiter:innen, wie sie von der Kundschaft misshandelt wurden. Eine ehemalige Kellnerin behauptete, dass eine Gruppe junger Männer, denen das Konzept des Restaurants nicht gefiel, sie körperlich bedrohten und einschüchterten.
Karen's Diner erklärte gegenüber Euronews Culture: "Wir hatten einige verärgerte Ex-Mitarbeiter:innen, denen wir aus Gründen mangeknder Leistung oder unangemessenen Verhaltens gekündigt haben. Diese Mitarbeiter:innen warfen uns vor, kein sicherer Arbeitsort zu sein und erzwangen eine Untersuchung durch die zuständigen Gremien. Die Untersuchung ergab, dass die untersuchenden Parteien mit den Standards und Verfahren innerhalb des Veranstaltungsortes sehr zufrieden waren und die Behauptungen, wir seien ‘unsicher', zurückgewiesen wurden.”
Wer steckt hinter dem Konzept?
Karen's Diner wurde 2021 von Viral Ventures, einer australischen Veranstaltungsfirma, gegründet. Seitdem ist es schnell gewachsen und hat Filialen in ganz Großbritannien und in Indonesien.
"Konzept-Restaurants werden zunehmend von Menschen entwickelt, die keinen gastronomischen Hintergrund haben, zum Beispiel von Tech-Unternehmern oder Investoren. Sie versuchen, sich eine Nische in einer hart umkämpften Branche zu schaffen", erklärt Professor Marc Stierand, Experte für Management und Innovation an der weltweit renommierten EHL Hospitality Business School in Lausanne am Genfer See.
Abgesehen von den Karen-Utensilien erinnern die karierten Tische und die Neonbeleuchtung des Diners an ein kitschiges US-Diner. "Es erinnert mit seinen sanften Farben und der lustigen Einrichtung an einen Disney-Film. Diese Akzente wurden sorgfältig ausgewählt. Wäre die Einrichtung zu dunkel und düster, wäre das Erlebnis für den Kunden zu intensiv", sagt Professor Stierand.
Das Gastgewerbe erwies sich während der COVID-19-Pandemie als fragil, und Restaurants in ganz Europa hatten in der Folge Schwierigkeiten, Personal zu finden. Laut Professor Stierand wendet Karen's Diner jedoch möglicherweise einen cleveren Trick an, indem es "Menschen für einen Job anzieht, an dem sie sonst vielleicht nicht interessiert wären, wenn sie in einem normalen Restaurant arbeiten würden. Die Verhöhnung muss aber so erfolgen, dass sich das Personal selbst lächerlich macht und nicht die Kunden".
Werden die Kunden für einen Nachschlag wiederkommen?
"Gastronomie ist ein Erlebnis, und wenn der Kunde nicht mitgenommen wird, kann das Restaurant nicht funktionieren. Die Kellner:innen müssen in der Lage sein zu denken: 'Oh, diesen Witz habe ich letzten Mittwoch mit diesem Kunden gemacht', sonst ist es nicht lustig", erklärt Stierand.
Die Gäste, die wir befragten, waren geteilter Meinung, ob sie wiederkommen werden. "Ich habe den Abend damit verbracht, gedemütigt zu werden, und trotzdem will ich wiederkommen - ich kann mich selbst nicht verstehen", lacht Kai, ein 25-jähriger Architekt, der die unkonventionelle Entscheidung getroffen hat, für ein romantisches Dinner for Two ins Karen's zu gehen.
Für den 22-jährigen Nicky Wojakovski ist es ein klares Nein. "Ich muss zugeben, dass ich nach 20 Minuten genug davon hatte, beleidigt zu werden, und das Essen ist auch nicht besonders gut. Es ist ein bisschen surreal, und ich frage mich, warum es diesen Ort überhaupt gibt!"