Weitsprung-Revolution? Legenden mit beißendem Spott
Es ist eine Idee, die die Leichtathletik spaltet: Der Weitsprung könnte vor einem grundlegenden Wandel stehen.
Der Weltverband World Athletics testet derzeit die Einführung einer größeren Absprungzone, die den 20 Zentimeter kleinen Absprungbalken in Zukunft ersetzen könnte und so wohl neue Bestleistungen hervorbringen würde.
World-Athletics-CEO Jonathan Jonathan Ridgeon kündigte an, man wolle „eine Sportart reformieren, die seit fast 150 Jahren gleich ausgetragen wird. Wir wissen, dass das nicht ohne Kontroversen geschehen wird.“ Damit lag er genau richtig - denn der Gegenwind ließ nicht lange auf sich warten.
Eine, die mit der revolutionären Idee wenig anfangen kann, ist Heike Drechsler. Die ehemalige Weltklasse-Weitspringerin, die mit 7,48 Meter noch immer den deutschen Rekord hält, verweist zunächst auf den Anlauf, der auf schmalen Absprungbalken ausgerichtet sei.
„Der Anlauf ist in verschiedenen Phasen unterteilt und gerade die letzte dieser Phase ist eine Rhythmusphase“, erklärt Drechsler bei SPORT1. „Du muss einen Punkt fokussieren, von dem du abspringst.“ Einen kleinen Balken - und eben keine größere Zone.
Drechsler: „Damit löst man nicht die Probleme“
Die 59-Jährige befürchtet sogar mögliche Verletzungen, die eine Absprungzone mit sich bringen könnte. „Der Sicherheitsfaktor spielt eine Rolle, da das Risiko, dass man weggerutscht und sich verletzt, höher wäre.“ Man könne sich zwar mehr auf die Geschwindigkeit und die Technik konzentrieren, „aber man löst damit nicht die Probleme“.
Unklar sei auch, aus welchem Material die Absprungzone bestehen würde. „Wie soll diese Zone aussehen? Wenn man zum Beispiel nur Tartan hat, ist die Gefahr des Wegrutschens zu hoch“, moniert die zweimalige Olympiasiegerin.
Doch auch abseits potenziell höherer Verletzungsgefahr hinterfragt Drechsler mit einer Portion Spott die Sinnhaftigkeit des World-Athletic-Plans. „Das wäre ja so, als würde man beim Tennis das Netz weglassen.“
Einer der größten Kritiker ist neben Drechsler Jahrhundertathlet Carl Lewis, der insgesamt neun olympische Goldmedaillen gewann, davon vier im Weitsprung und fünf im Sprint. „Man sollte mit Aprilscherzen bis zum 1. April warten“, ärgerte sich der US-Amerikaner in den sozialen Medien.
„Taifun von Tokio“ könnte in Vergessenheit geraten
Besonders das legendäre Duell mit Mike Powell bei der Weltmeisterschaft 1991 sorgte für einen der vielen Momente, die der Weitsprung in seiner klassischen Form zu bieten hatte.
In seinem dritten Sprung überbot Lewis mit 8,91 Metern den Weltrekord von Bob Beamon aus dem Jahr 1968 um einen Zentimeter. Doch Powell, der in 16 Duellen gegen Lewis 15 Mal unterlag, lief bei seinem fünften Versuch zu einer Höchstleistung auf und schraubte den Weltrekord um weitere vier Zentimeter in die Höhe (8,95 Meter).
„Ich denke, das Brett gehört einfach zum Weitsprung dazu, weil es eine technische Disziplin ist – samt Anlaufgestaltung und Absprung“, sagt Drechsler. „Ich weiß, die ungültigen Sprünge sind immer weit. Meine waren auch weit, vielleicht wäre ich auch schon 7,50 Meter gesprungen“, vermutet sie. Nur einer habe keine Probleme beim Anlauf gehabt: „Wenn ich an Carl Lewis denke – der war immer optimal am Brett.“
Über 30 Jahre nach dem legendären Tokio-Duell hat der Weltrekord immer noch Bestand. Die Befürchtung wächst jedoch, dass diese legendären Leistungen durch die Regeländerung zunichtegemacht werden könnten. So vermutete die deutsche Nachwuchshoffnung Simon Batz bei SPORT1, dass sich „die ganze Sportart verändern“ und die bestehenden Rekorde in Kürze reihenweise fallen könnten.
Dagegen ist Lewis davon überzeugt, dass sich die Weiten nicht verbessern werden - im Gegenteil. „Jede Person, die jemals über 29 Fuß (etwa 8,84 Meter, Anm. der Red.) gesprungen ist, ist noch am Leben. Vielleicht sollten Sie anfangen, sie zu fragen, wie sie es gemacht haben, und aufhören, alles andere zu versuchen.“
Lewis spottet mit Basketball-Vergleich
Das Problem habe laut Lewis auch nichts mit den ungültigen Versuchen zu tun. „Die heutigen Athleten versuchen nicht mehr, weit zu springen. Wir sind anders gesprungen. Deshalb sind wir auch weiter gesprungen. Die Änderung der Sprungbretter wird den Weiten also auf lange Sicht schaden. Der bestehende Mangel an Disziplin und Konsequenz auf der Anlaufbahn wird nur noch schlimmer werden“, meint der 62-Jährige.
Mit dem Wegfallen des Sprungbrettes würde man „einfach die schwierigste Fähigkeit aus dem Wettkampf entfernen“, kritisiert Lewis - und zieht eine Parallele zwischen der für ihn schwierigsten „Disziplin der Leichtathletik“ und dem Basketball: „Man müsste nur den Korb für Freiwürfe größer machen, weil so viele Leute ihn verfehlen. Was meint ihr dazu?“
Drechsler, die zur gleichen Zeit wie Lewis aktiv war, kann den früheren US-Star nur unterstützen „Es macht die Disziplin nicht interessanter, wenn das Brett weggenommen wird. Die sollen sich das gut überlegen.“
Die Sorge, die den Weltverband umtreibt, ist primär die „Zeitverschwendung“, wie es World-Athletics-Chef Ridgeon umschreibt - dann nämlich, wenn die rote Flagge hochgeht.
Um den TV-Zuschauer mit der Flut an Fehlversuchen, die laut Ridgeon einen Drittel aller Sprünge ausmachen, nicht zu langweilen, hat Drechsler einen anderen Vorschlag: „Man könnte auch die ungültigen Weiten einfach mal messen“. Der Ärger nach einem potenziellen Siegersprung, der aber ungültig ist, wäre vermutlich nicht weniger telegen als eine entsprechende Jubelpose.
World-Athletic-Boss: „Geht nicht ohne Kontroversen“
Über die tatsächlichen Auswirkungen der möglichen Regeländerungen kann weiterhin nur spekuliert werden. Die emotionale Debatte scheint aber mehr Kritiker als Befürworter zu haben.
Deshalb hilft es auf das Fazit von Batz zu verweisen, der erklärte: „Ich glaube, man muss einfach abwarten, wie es dann tatsächlich bei den Tests abläuft. Ob es sinnvoll ist oder nicht.“