Attacke in Markdorf gefilmt - 14-Jähriger verprügelt: Gewaltexperte enthüllt unfassbare Reaktion der Schule

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In Markdorf wurde ein Jugendlicher von Mitschülern attackiert. Anti-Mobbing-Experte Carsten Stahl findet die Reaktion der Schulleitung „peinlich“. Tragisch findet er auch die Prügelattacke von Kindern in Gera.

Nach einer Prügelattacke von Kindern in Gera ist die nächste Gewalttat öffentlich geworden: Im baden-württembergischen Markdorf wurde ein 14-Jähriger auf dem Schulweg von Mitschülern abgepasst und angegriffen. Carsten Stahl ist als Anti-Mobbing-Experte in den Fall involviert. Im Interview spricht er über die Attacken in Markdorf und Gera.

FOCUS online: Herr Stahl, was ist in Markdorf vorgefallen?

Carsten Stahl: Etwas, was in Deutschland leider so oder so ähnlich jeden Tag an Schulen passiert. Eine Gruppe von Jungs haben einen Mitschüler gegriffen und ihn bedroht. Durch eine Gruppendynamik ist das immer weiter eskaliert. Er wurde mit Ohrfeigen und Schlägen gedemütigt und schwer verletzt. Leider ist es mittlerweile die Regel, dass die Taten auch noch gefilmt werden. Die Mutter ist zur Schule gegangen, aber die Schulleitung hat nichts unternommen – das kenne ich auch von anderen Fällen.

Warum bleiben die Schulleitungen oft untätig?

Stahl: In diesem Fall gab es ja sogar ein Video als Beweis, es steht nicht Aussage gegen Aussage. Es gibt ein systemisches Versagen. Die Rektoren haben leider oft Angst um den Ruf ihrer Schulen, sie werden aber auch viel zu oft von den Schulbehörden und Ministerien alleine mit diesen Problemen gelassen. In ihrer Hilflosigkeit, aber teilweise auch wegen eigener Ignoranz, schweigen leider zu viele Schulen in unserem Land die Kinder- und Jugendgewalt tot. Als Elternteil, das selbst Mobbing und Gewalt bei sich und seinem Sohn erlebt hat, weiß ich, wie schlimm sich das für die betroffenen Familien, und vor allem für die betroffenen Kinder anfühlt.

„So umschwenken zu müssen, ist einfach peinlich und beschämend für die Schulleitung“

Wie ist die Mutter des Opfers in Markdorf mit dem Schweigen der Schulleitung umgegangen?

Stahl: Sie hat ihren Sohn aus Angst vor weiterer Gewalt und Demütigung zu Hause gelassen. Die Täter wurden nicht suspendiert und er hatte extreme Angst, ihnen wieder zu begegnen. Die Schulleitung hat aber darauf gedrängt, dass das Opfer wieder in den Unterricht kommt, er müsse lernen. Die Mutter hat sich dann an mich und Bündnis Kinderschutz gewendet und um Hilfe und Unterstützung für sich und Ihren Sohn gebeten. Ich habe den Vorfall dann mit ihrer Zustimmung an die Medien weitergegeben.

Und siehe da, auf einmal ist eine Suspendierung doch möglich. Jetzt wird sogar darüber gesprochen, dass einer der Angreifer von der Schule fliegt, weil er Wiederholungstäter ist. So umschwenken zu müssen, ist einfach peinlich und beschämend für eine Schulleitung. Das zuständige Regierungspräsidium Tübingen findet es natürlich auch nicht lustig, dass ihnen der Fall verschwiegen wurde.

Was erwarten Sie sich denn von den Schulleitungen?

Stahl: Ich fordere von der Schule in Markdorf und von allen Schulen in Deutschland einen offenen und ehrlichen Umgang mit Mobbing und Gewalt. Nicht der Ruf einer Schule hat oberste Priorität, sondern die Unversehrtheit der Kinder und Jugendlichen, Ihrer Schutzbefohlenen. Es gibt jede Woche zigtausende Mobbing und Cyber-Mobbingfälle an den Schulen in unserem Land. Bei diesen Zahlen kann sich keine Schule aus der Verantwortung ziehen und behaupten, dass es bei ihnen keine Gewalt und kein Mobbing gibt.

Außerdem braucht es viel mehr Unterstützung von den Schulämtern und Ministerien für hilflose Schulleitungen und Lehrkräfte, die jeden Tag mit diesen massiven Problemen an Ihren Schulen konfrontiert sind. Schließlich braucht es eine Offenlegung der Mobbing und Gewaltzahlen an den Schulen und eine bundesweite und regelmäßige Förderung von wirksamer, zielgerichteter, und nachhaltiger Prävention und Aufklärung.

Carsten Stahl, Experte für Gewaltprävention<span class="copyright">Carsten Stahl</span>
Carsten Stahl, Experte für GewaltpräventionCarsten Stahl

„Werte verlieren immer mehr an Bedeutung“

In Gera waren die Täter gerade einmal 12 und 13 Jahre alt . Was treibt so junge Menschen zu gewalttätigen Handlungen an?

Stahl: Tatsächlich erlebe ich in meiner Arbeit sogar Kinder, die noch deutlich jünger sind. Schon im Alter von acht oder neun haben sie ein extremes Aggressionspotenzial. Man muss sich klarmachen: Kinder wachsen heute in einer völlig anderen Welt auf als früher. Werte wie Respekt, Toleranz, Nächstenliebe und vor allem die Unversehrtheit des menschlichen Körpers verlieren immer mehr an Bedeutung. Gerade in den letzten zehn Jahren sehen wir einen massiven Anstieg an Jugendgewalt und einer Verrohung der Jugend in Deutschland.

Warum ist das Ihrer Meinung nach der Fall?

Stahl: 2010 ist das Smartphone auf den Markt gekommen. Mit immer mehr Apps, die eine Bedrohung für Kinder und Jugendliche darstellen. Die schlimmste Plattform ist TikTok. Junge Menschen werden dort mit falschen Vorbildern und Werten konfrontiert. Obwohl die App erst ab 16 Jahren erlaubt ist, sind bereits Grundschüler auf TikTok aktiv. Wenn Kinder jeden Tag gewaltvollen Content wie Missbrauch, Vergewaltigungen, schwere Körperverletzungen, sexistische Inhalte, Mobbing, Hass, Demütigungen, Tierquälerei, oder Enthauptungsvideos konsumieren und in ihren WhatsApp Gruppen herumschicken, dann macht das was mit ihnen und Ihrer Haltung gegenüber anderen und vor gesellschaftlichen Grenzen.

Sie wollen cool sein, dazugehören, berühmt und anerkannt werden. Das ist eine ganz andere Jugend als noch vor zehn, fünfzehn Jahren, oder vor 20 Jahren. Die Zeit der Klingelstreiche ist vorbei.

„Einer fängt an, viele machen mit, und viele stehen darum und schweigen“

Die Haupttäter in Gera waren vier Kinder unter 14 Jahren, aber es standen bis zu 20 Jugendliche während der Tat drumherum. Warum ist da niemand dazwischen gegangen?

Stahl: Was wir in Gera sehen, ist eine Form des extremen Mobbings. Das wird immer ausgelöst durch eine bestimmte Gruppendynamik und einen Gruppenzwang. Hier kommt noch hinzu, dass die Tat gefilmt wird. Man sieht auf dem Video, wie sich die Jugendlichen gegenseitig anstacheln und zur Gewalt anfeuern.

Keiner von denen möchte später als der Schwache und als Looser dastehen, den man durch die Aufnahme ja sofort identifizieren könnte. Genauso passiert das in den Schulen – einer fängt an, viele machen mit, und viele stehen darum und schweigen aus Angst, selbst zum Opfer von Mobbing, Demütigung, und Gewalt zu werden. Und auch wenn das manchmal „nur“ Beleidigungen sind: Diese Worte schlagen ein wie Kugeln in die Seele des Opfers, das daran zerbricht.

Aber die Täter wissen: Wenn sie unter 14 sind, kann ihnen gar nichts passieren. Von der Justiz werden ihnen keine Grenzen gesetzt.

Welche Rolle spielt die Herkunft und der kulturelle Hintergrund der Täter bei solchen Vorfällen?

Stahl: Es kommt hier sehr darauf an, wo die Menschen leben. Oft leben sie in Ballungsgebieten auf engsten Raum. Ich selbst bin in Berlin-Neukölln aufgewachsen, mit vielen türkischen, arabischen, aber auch vielen deutschen Familien. Natürlich gibt es Spannungen, wenn Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen so eng zusammenleben. Da gibt es dann auch Elternhäuser, die vielleicht andere Werte vorleben – sei es der Stand der Frau, oder, dass man Probleme schneller mit Gewalt löst.

Wenn wir Menschen in unser Land holen – egal woher – dann reicht es nicht, ihnen eine Bezahlkarte in die Hand zu drücken und sie dann sich selbst zu überlassen. Sondern wir müssen diese Menschen integrieren, besonders ihre Kinder. Ansonsten bilden sich Parallelgesellschaften und es entstehen Konflikte und Spannungen.

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