"Ich blicke in Abgründe"

Der Rechtsmediziner Michael Tsokos im Interview

Er widmet seit 18 Jahren einen großen Teil seines Lebens dem Tod: Michael Tsokos ist Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner. Wenn er mal nicht vom Obduktionssaal aus Mordfälle untersucht, liest er Kriminalgeschichten -  oder schreibt sie gleich selbst. In zwei Büchern („Dem Tod auf der Spur“ und „Der Totenleser“) hat der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin der Berliner Charité bereits von seinen spektakulärsten Fällen aus dem echten Leben berichtet – im September erscheint nun sein erster Thriller: "Abgeschnitten". Im Gespräch mit Yahoo! Nachrichten erzählt der 45-Jährige von seinen erschreckendsten Fällen, vom Geruch am Tatort - und davon, dass in Krimis viel mehr Wahrheit steckt, als man glauben möchte.

Herr Tsokos, worum geht es in Ihrem Thriller „Abgeschnitten“?

Michael Tsokos: Die Tochter eines Rechtsmediziners wird entführt, und anschließend bekommt er mehrere Leichen vorgesetzt, die Hinweise auf ihren Aufenthaltsort enthalten. Die Idee zu der Geschichte kam mir, als ich in Hamburg als Rechtsmediziner gearbeitet habe. Damals bin ich hin und wieder nach Helgoland gefahren, um dort zu obduzieren. Manchmal waren wir dann vom Festland abgeschnitten, weil es einen Sturm oder einen Orkan gab. Das kommt auch in dem Buch vor, ebenso wie der Titel natürlich daher stammt.

Ich habe mich gefragt: Was würde ich tun, wenn ich das Ergebnis einer Obduktion bräuchte, die Unterschung aber nicht selbst durchführen kann? Ich müsste jemanden anrufen und ihm Schritt für Schritt erklären, wie er eine Obduktion an einer Leiche durchführt, die vor ihm liegt. Genau das ist Thema des Buches: Der Rechtsmediziner hat keine Möglichkeit, nach Helgoland zu kommen, um den nächsten Hinweis zu finden. Also muss er sich eine völlig unbedarfte Person suchen, die ihn nicht kennt, und sie dazu kriegen, einen Leichnam zu obduzieren.

Telefonnummern und andere Hinweise, die in Leichen versteckt werden – das klingt ziemlich absurd. Passiert so etwas auch in der Wirklichkeit?

Nein, das ist Fiktion. Zumindest habe ich so etwas noch nicht erlebt oder davon gehört. Allerdings hatte ich einmal den Fall, dass ein Mörder einem Opfer mit blauem Edding einen Hinweis auf den Bauch geschrieben hat: das Wort „Revolution“. Gedeutet werden konnte dies allerdings erst viel später. Denn seine anderen Opfer hatte er zuvor in Paris und London getötet und auf die gleiche Art mit dem Wort markiert. Erst nach einiger Zeit kehrte er wieder nach Deutschland zurück, wo er einen weiteren Mord beging. Und dann erst konnte das alles zusammengeführt werden. Es stellte sich heraus, dass der Mörder ein psychisch schwer kranker Mann war. Manchmal ist die Realität sogar spannender als die Fiktion. Diesen Fall beschreibe ich übrigens in meinem dritten Sachbuch „Klaviatur des Todes“, das im Frühjahr 2013 erscheint.



Von „Tatort“ bis Simon Beckett: Es gibt unzählige fiktionale Krimigeschichten. Wie viel Wahrheit steckt in solchen Filmen und Büchern?



Das Niveau ist in den letzten Jahren definitiv gestiegen. Früher haben sich Autoren zum Beispiel gar kein Bild davon gemacht, worin genau die Tätigkeit von Rechtsmedizinern besteht. Da wurden Rechtsmediziner immer Pathologen genannt – dieser Fehler taucht übrigens auch heute noch hin und wieder auf. Es heißt dann, dass Pathologen für die Polizei Untersuchungen durchführen. Das stimmt nicht: Pathologen haben mit Rechtsmedizinern genau so viel gemeinsam wie ein Augenarzt mit einem Gynäkologen. Das sind zwei völlig unterschiedliche Berufsausbildungen.

Dann schaffen wir doch dieses Missverständnis ein für allemal aus der Welt. Worin besteht der Unterschied?


Pathologen sitzen hauptsächlich am Mikroskop und untersuchen Gewebeproben, die häufig bei Operationen von Lebenden entnommen wurden. Sie führen kaum Obduktionen durch – außer mit Einverständnis der Angehörigen, und zwar bei Todesfällen, die sich im Krankenhaus ereignet haben und bei denen kein Hinweis auf einen nicht natürlichen Tod besteht. In dem Moment, in dem die Todesursache nicht einwandfrei geklärt werden kann oder der Verdacht eines Verbrechens besteht, kommt der Rechtsmediziner zum Einsatz. Wir benötigen das Einverständnis der Angehörigen nicht, denn der Leichnam ist zum Zeitpunkt der Obduktion von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt. Aus folgendem Grund: In 80 Prozent der Fälle kommen Angehörige als Tatverdächtige in Betracht. Wir obduzieren vor allem Tote, die außerhalb von Krankenhäusern gefunden werden.

Sie als Rechtsmediziner untersuchen damit also die mysteriöseren Todesfälle. Gab es in den letzten 18 Jahren einen Fall, der Sie besonders verblüfft oder erschreckt hat?


Dazu gehört unter anderem folgender Fall aus dem Herbst 2011: Ein Tätowierer hat einen anderen Tätowierer in Berlin getötet, die Leiche zerstückelt und die einzelnen Teile über Berlin verteilt. Alle paar Tage tauchte ein weiterer Teil auf, und wir mussten sie wie ein Puzzle zusammenfügen – bis wir schließlich die Identität des Verstorbenen feststellen konnten. Anschließend konnte die Polizei relativ schnell den Täter ausfindig machen. Ich habe schon viele spannende Fälle erlebt. Kürzlich zum Beispiel haben wir den Fall eines Serienmörders abgeschlossen, der im Berliner Homosexuellen-Milieu mehrere Männer mit K.-o.-Tropfen vergiftet hat.

Über den ersten Fall, den Sie beschrieben haben, wurde in der Presse ausführlich berichtet. Es herrscht ein unglaublich großes Interesse an spektakulären Mordfällen – ob real oder fiktional. Wie erklären Sie sich die menschliche Faszination für Tod und Grusel?

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Ich glaube, es ist einerseits der Reiz am Morbiden, andererseits aber das Wissen darum, dass es anderen passiert, man selbst aber wegzappen kann. Man kann sich genüsslich gruseln, geht danach aber mit der Gewissheit ins Bett, dass sich kein Mörder im eigenen Schlafzimmer versteckt hat. Aber auch der Blick hinter die Kulissen – auf eine Bühne, die man sonst nicht betreten kann – spielt dabei eine Rolle, denke ich. Und man muss den schrecklichen Gestank nicht riechen, das Blut nicht sehen. Alles wird ästhetischer dargestellt.

Warum hat es Ihnen nicht genügt, Zuschauer aus sicherer Entfernung zu bleiben?

Das hat sich so ergeben. Als ich Medizin studiert habe, fand ich alles spannend. Aber als ich schließlich in der Rechtsmedizin landete, war mir sofort klar: Das ist genau das, was ich machen will. Ich gehe auch nach 18 Jahren noch jeden Tag gerne zur Arbeit. Ich weiß nie, was mich erwartet. Ich blicke in Abgründe, die nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung zu sehen bekommen. Das ist einfach spannend.

Ihnen bleibt der Gestank im Obduktionssaal nicht erspart. Wie werden Sie ihn am Ende eines Arbeitstages wieder los?

Im Sommer öffne ich auf der Heimfahrt das Dach meines Cabrios, um meine Nase durchzulüften. Ich dusche aber natürlich auch, wenn ich Feierabend habe. Danach ist man den Geruch eigentlich los. Daran gewöhnen werde ich mich nie – aber wenigstens wird mir nicht schlecht davon.

Sie waren in Thailand bei der Identifikation der Tsunami-Opfer dabei und haben im Kosovo massenweise Leichen gesehen und obduziert. Wie schaffen Sie es dabei, Ihre Emotionen zu schützen?

Man ist ja bei solchen Einsätzen nie alleine, sondern immer im Team unterwegs. Da stützt man sich gegenseitig und spricht viel über das Gesehene. Bei uns geht es zu wie in jedem anderen Beruf auch. Trotzdem: Wenn man von so einem Auslands-Aufenthalt nach Hause kommt, ist es schon seltsam, zu sehen, dass die eigene Familie ganz normal weiterlebt, während man selbst Tausende von Toten gesehen und mitbekommen hat, wie ganze Familien ausgelöscht werden.

Sie haben einmal gesagt: Die Toten zeigen uns, was in unserer Gesellschaft gerade schief läuft. Können Sie das genauer erklären?

Es gibt gewisse Todesarten, die Rechtsmediziner zuerst sehen. In den 90er Jahren waren das zum Beispiel die S-Bahn-Surfer oder die Crash-Kids.

Und was kommt momentan besonders häufig vor?

Es gibt viele Todesfälle durch Starkstrom. Die Opfer stammen oft aus osteuropäischen Banden, die versuchen, Starkstromkabel zu stehlen, weil die aus Kupfer sind. Sie wollen das Metall verkaufen. Solche gesellschaftlichen Entwicklungen werden der Bevölkerung meistens erst fünf oder zehn Jahre später bekannt.

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