Die Nato wird 75 – dieses Bündnis wird heute mehr gebraucht denn je

Um die Verteidigungsallianz ranken sich Mythen und Lügen

In einer Kaserne bei Stockholm hissen Soldaten des neuen Mitgliedsstaats Schweden im März die Nato-Fahne (Bild: TT News Agency/Fredrik Sandberg/via REUTERS)
In einer Kaserne bei Stockholm hissen Soldaten des neuen Mitgliedsstaats Schweden im März die Nato-Fahne. (Bild: TT News Agency/Fredrik Sandberg/via REUTERS)

Die meisten Gewohnheiten werden einem im Lauf der Zeit ganz lieb. Verzichten will man auf sie kaum. Zur Tradition ist es zum Beispiel geworden, der Nato mit Zweifeln und Misstrauen zu begegnen. Das hat gute Gründe. Aber auch für sie gibt es eine Halbwertszeit.

Hier ein guter Grund aus der Vergangenheit. Vorgestern schaute ich den Film "A Taxidriver", es sollte eine südkoreanische Komödie sein, die aber im Lauf der Minuten recht dramatisch wurde: Die Handlung erzählte, wie sich 1980 in Südkorea ein Militär nach oben putschte und in einer Stadt ein Massaker anrichtete – während die USA zuschauten und die Gewaltherrschaft guthießen. Die USA waren und sind heute die Treiber der Nato. Und während ich den Film schaute, erinnerte ich mich an früher, als regime change im Sinne des Weißen Hauses zum gelebten Alltag gehörte.

Den strategischen Interessen, zu denen manchmal auch bloße Absatzmärkte gehörten, ordnete sich alles unter. Einem US-Präsidenten passte nicht die demokratische Regierung im Iran oder in Chile? Weg damit. Freiheit galt damals in erster Linie nur für den "Westen". Das war auch die Nato.

Geh' doch nach drüben

Ursprünglich war sie gegründet worden, um der expandierenden Sowjetunion in Europa einen Damm vor die Nase zu setzen. Das war bitter notwendig. Man konnte ja dabei zuschauen, wie der Kreml ein Land nach dem anderen in seine Einflusssphäre zog: Ostdeutschland, Polen, Tschechien und Slowakei – und noch ein paar mehr. Der Kalte Krieg entbrannte. Damals waren in den Anfangsjahren die USA militärisch führend, weil Europa nach dem Zweiten Weltkrieg noch halb abgebrannt war, dank Deutschland. Doch aus dem reinen Schutz vor dem Totalitarismus der Sowjets entwickelte sich auch ein expansiver Kurs des Imperialismus.

Etwas schaukelte sich hoch, mit atomaren Bedrohungen auf beiden Seiten. Das Gleichgewicht war teuer erkauft und im Grunde ein Wahnsinn. Daher entstand die Friedensbewegung. Sie zeigte der Konfrontation den Stinkefinger. Das war damals richtig, ging es doch darum, eine globale Katastrophe zu verhindern und beiden Böcken im Stall die Hörner zu runden.

Die Rezepte von damals aber funktionieren heute nicht. Das ist der große Fehler der aktuellen Friedensbewegung, über die zu schreiben mir schwer fehlt, weil ich nicht zu böse und arrogant wirken will; die Ziele sind gut, aber dieser traurige Haufen bietet bedrängten Gesellschaften wie der ukrainischen nichts an, jedenfalls keine Menschlichkeit. Das muss man als Linker erstmal hinkriegen.

Heute geht es nicht um die Verhinderung eines Krieges, sondern um die Verteidigung inmitten eines solchen. Das will sich die Friedensbewegung mit ihrem Mantra "Das ist nicht unser Krieg" zurechtmeditieren, scheitert indes im Realitätscheck. Und das bringt wieder die Nato ins Spiel.

Die Nato war nie reiner Spielball US-amerikanischer Interessen. Sie war stets heterogen und mit Mitgliedern versehen, die immer auch ihre eigenen Suppen kochten, wie etwa die Türkei. Oder Norwegen. Oder Ungarn – die Liste ist lang. Die Erfahrung von Jahrzehnten voller US-Imperialismus jedenfalls war Futter für einen grassierenden Antiamerikanismus, den Linke und Rechte bis heute teilen. Daher reden Sahra Wagenknecht und Tino Chrupalla bei diesem Punkt im gleichen Zungenschlag: Sie brauchen ein Feindbild.

Heute ist die Nato kein Selbstgänger mehr. Die USA haben kein Interesse, die Hauptlasten dieser Allianz zu tragen – Donald Trump mag da die Spitze abgeben, aber unabhängig von ihm haben sich die Europäer zu fragen, warum sie nicht schon längst eine eigene Sicherheitsarchitektur aufgebaut haben, in- oder außerhalb der Nato; es ist doch Europa, das vom Nachfolger der Sowjetunion im Kreml auch heute bedroht wird, und nicht Texas oder Kalifornien.

Eine Portion Realitätssinn, bitte

Daher muss ein neues Denken her. Investitionen in Waffen und in Soldaten sind kein rechter Kram zum Ausbooten von Demokratie und Menschlichkeit, sondern die Garanten dafür. Das ist leider so. Alles andere führt zu Alice im Wunderland. Deutschland und die anderen demokratisch verfassten Staaten Europas müssen ihre Verteidigungssicherheit ausbauen, daran führt kein Weg vorbei. Die Nato ist dafür ein brauchbarer Klub, sie kann mit neuem Leben erfüllt werden. Und es ist in unser aller Interesse, ihr die Bedrohung zu nehmen, die ihr aus Russland angedichtet wird: Russland war nie durch die Nato nur ein Jota gefährdet.

Das ganze Gerede von Nato-Manövern hier und da im Vorfeld des russischen Angriffs auf die Ukraine lenkt nur ab. Der Kreml überfiel seinen Nachbarn nicht wegen der Nato, sondern nur wegen sich selbst. So entwickelt sich die Nato tatsächlich zum Notwendigen, das wir gerade zur Gewährleistung unserer Freiheit brauchen. Von daher: Happy Birthday!