Draußen Saxophon, drinnen Kuhglocke - Nagelsmann setzt Spitze gegen deutsche Fans - und hat damit völlig recht

Deutschland-Fans im Spiel gegen die Schweiz<span class="copyright">Getty Images</span>
Deutschland-Fans im Spiel gegen die SchweizGetty Images

Julian Nagelsmann kritisiert die Stimmung beim dritten EM-Spiel gegen die Schweiz. Während auf den Straßen Frankfurts EM-Euphorie herrscht, bekommen es die Fans nicht ins Stadion transportiert. Warum sich die deutschen Anhänger noch so schwer tun.

Das Läuten einer Kuhglocke im Fußballstadion ist eher selten. Ich hatte es zuvor noch nie vernommen, bei einem Spiel der Eidgenossen gehört es aber wohl dazu, wie mir ein Kollege aus der Schweiz erklärt.

Heimspiel, dritte Gruppenpartie, das Achtelfinale schon im Vorfeld gesichert, euphorische Stimmung im Land. Und doch bimmelt die Kuhglocke aus dem gegenüberliegenden Gästeblock durch die Frankfurter Arena bis zu unserem Platz auf der Pressetribüne. Auch mein Sitznachbar wundert sich.

Die Schweizer Garde macht mächtig Lärm und überschallt während des Spiels auch die deutsche Kurve. Erst spät in der Partie, als die deutsche Mannschaft vehement auf den Ausgleich drängt, wird das Publikum elektrisiert und peitscht in der Folge auch die Spieler auf dem Rasen nach vorne.

Nagelsmann kritisiert Stimmung im Frankfurter Stadion

„Ich glaube, wir haben das Stadion aufgeweckt, was wichtig war“, meinte Bundestrainer Julian Nagelsmann vielsagend. „Es war vorher schon sehr ruhig“, so das harte Urteil über das Frankfurter Publikum.

In Stuttgart hatte der 36-Jährige die Fans noch überschwänglich gelobt und von einer besonderen Atmosphäre gesprochen. Nun schlägt er Alarm, kitzelt die Anhänger der Nationalmannschaft für das anstehende K.o.-Spiel in Dortmund. Da geht noch was!

Das waren auch meine Worte nach der Ungarn-Partie im Schwabenländle. Ja, die Stimmung war für ein Länderspiel der deutschen Nationalelf herausragend. Aber gefühlt habe ich es dort auch schon nicht.

Für meine Kritik habe ich in den Tagen danach viele Rückmeldungen bekommen. Die meisten haben meiner Einschätzung widersprochen. Lag es also an mir? In Frankfurt will ich tiefer eintauchen und mische mich schon am Nachmittag unter die Deutschland-Fans in der Innenstadt.

Auf den Straßen herrscht wahrlich EM-Euphorie

Bei Sonnenschein und ausreichend Flüssignahrung ist die Stimmung euphorisch. An jeder Ecke wird gesungen und die Namen der Mannschaft skandiert. Tolle Bilder, wie sie uns schon in der gesamten EM-Zeit aus der ganzen Bundesrepublik begegnen. Fußballfans aus ganz Europa machen dieses Turnier zu einem großartigen Fest. Die Deutschland-Fans berauschen selbst mit einem Fanmarsch am Dienstag durch Stuttgart.

Die Bilder gehen um die Welt. Besonders die eines Mannes. Seine Videos werden in den Sozialen Netzwerken millionenfach geteilt, seine Musik und die Stimmung, die er bei den Menschen entfacht, begeistert. Andre Schnura liefert den Sound der EM - mit einem altmodischen Instrument im futuristischen Gewand und modernen Klang.

Ich treffe den Musiker kurz vor seinem Auftritt auf dem Fantreffen, organisiert vom „Fanclub Nationalmannschaft“, in Frankfurt. Interviews will er nicht geben, er lasse lieber seine Musik sprechen, sagt er. Der ganze Trubel der letzten Tage ist ihm noch nicht ganz geheuer. Andre, gekleidet im WM-Trikot von 1990, Nummer 9 und die Aufschrift „Völler“ auf dem Rücken, wirkt ein wenig schüchtern, als er auf seinen Auftritt wartet.

Der Mann mit dem Saxophon

Das ändert sich, als er mit Sonnenbrille und Fischerhut eine Art optische Barrikade errichtet und endlich sein markantes, mattschwarzes Saxophon in der Hand hält. Das Instrument, das Trikot, die Musik, die Fluppe hinter dem Ohr, alles passt. Als er die Bühne des Fanfests betritt, jubeln ihm tausende Fans auf dem Frankfurter Opernplatz zu.

Auf der Bühne bleibt Andre aber nicht lange, denn er gehört dort gar nicht hin. Er gehört unter die Fans. Er macht einen Satz über den Absperrzaun und plötzlich ist er umgeben von der Masse. Wie in all den Videos, die in den vergangenen Tagen viral gegangen sind.

Als Saxophonist „Major Tom“ anstimmt, kennen die DFB-Fans kein Halten mehr

Um ihn herum wehen die Deutschland-Flaggen, zahlreiche Handys sind gezückt. Beim Welthit „Freed from Desire“ bittet er die Fans zu Boden, nur damit alle beim Start des Refrains eskalieren können. Weitere Partykracher wie „Zeit, dass sich was dreht“, der Grönemeyer-Song zum WM-Sommermärchen 2006, und natürlich Peter Schillings „Völlig losgelöst“ dürfen nicht fehlen. Atemberaubend!

„Fanclub Nationalmannschaft“ organisiert neuen Support

Schon vor Schnuras Auftritt hatten die Capos des Fanclubs die Stimmung angeheizt. Bengt Kunkel, Fußballfan aus Köln, hatte sich den Vorschlag von Niclas Füllkrug zu Herzen genommen und sich als Vorsänger im Fanclub der schweren Aufgabe des Taktgebers im Stadion angenommen.

Lange Zeit herrschte auf den Rängen bei Länderspielen Tristesse und Stille. Die immer gleichen Lieder, die fehlende Leidenschaft und die fehlende Organisation des gemeinsamen Supports sorgten für Langeweile auf den Sitzen. Die zusätzliche Entfremdung der Nationalmannschaft tat in der sportlichen Krise ihr Übriges. Im Land der besten Fanszenen Europas, um die die Bundesliga weltweit bewundert und beneidet wird, fährt ausgerechnet das Flaggschiff ohne Wind im Segel.

Allez, Allez, Allez... bis zum Stadion

Für die Heim-EM will die neu formierte Band um Kunkel das ändern. Mit neuen, modernen Liedern sollen auch junge Fans angesprochen werden. Auf dem Opernplatz stimmt Kunkel zusammen mit einem Trommler den Fanhit „Allez, Allez, Allez“ von Jamie Webster an. Beim FC Liverpool wird der junge Songwriter damit schnell zur Ikone, auch andere Vereine etablieren die Melodie in ihrer eigenen Version auf den Tribünen.

In Frankfurt singen die Fans die deutsche Version kräftig mit, alle scheinen textsicher zu sein. Immer wieder geht es von vorne los. Langsam baut sich der Text auf, bis alle gemeinsam „Allez! Allez! Allez!“ brüllen, hüpfen und tanzen. DAS ist EM-Stimmung!

„Weiter“ geht es mit dem Gesang im Frankfurter Waldstadion allerdings nicht. Wo sonst die Ultras der Eintracht stehen und jede Woche für Gänsehautatmosphäre sorgen, wirkt die noch überschaubare Gruppe des Fanclubs etwas verloren. Mit Megafonen und Trommeln versuchen sie alles, doch viel zu selten dringen ihre Gesänge auf die Haupt- oder Gegentribüne.

Fanclub wird im Stich gelassen

Stakkatoartig werden letztlich doch die immer gleichen Sprechchöre angestimmt. „Deutschland, Deutschlaaaaand“, „Ole, Ole“ und „Wer nicht hüpft“. Die kennt der gemeine Deutschland-Fan immerhin. Gehüpft wird trotzdem nicht überall.

Die deutschen Nationalspieler auf ihrer Ehrenrunde im Frankfurter Stadion<span class="copyright">AFP via Getty Images</span>
Die deutschen Nationalspieler auf ihrer Ehrenrunde im Frankfurter StadionAFP via Getty Images

 

Der typische Stadiongänger ist bei DFB-Spielen eher selten auf den Rängen zu sehen. Das macht es noch schwerer, moderne Lieder zu etablieren.

Der „Fanclub Nationalmannschaft“ macht einen tollen Job, er unterstützt das DFB-Team aufopferungsvoll. Aber auch er braucht die Unterstützung der anderen Zuschauer. Andere Nationen machen es vor, wie der Schweizer Block. Da wirkt das rote Meer wie eine Einheit. Sie funktionieren zusammen.

Das wünsche ich mir auch für die kommenden Spiele. Die EM-Euphorie ist da, das sieht man auf den Straßen, sie ist überall zu spüren. Nur ins Stadion lässt es sich noch nicht vollends übertragen. Da geht noch mehr!

Und damit beim nächsten Spiel in Dortmund alle mitsingen können, hier der Text zur deutschen Interpretation von „Allez, Allez, Allez!“:

„Im Herzen von Europa, in der Bundesrepublik. Unsre Farben Schwarz-Rot-Gold, die schrein wir heut zum Sieg. Von den Alpen bis zur Ostsee, folgen wir egal wohin. In den Stadien dieser Welt, wollen wir mit euch gewinn!“

Surftipp: EM-Sieg laut Datenanalyse - Alle KI-Modelle sind sich einig - für den EM-Titel kommt nur ein Team in Frage

Fußball-EM 2024 im Newsticker: Uefa sperrt Albanien-Stürmer wegen nationalistische Gesänge