EM-Kolumne von Pit Gottschalk - Vor dem größten Spiel seines Lebens muss Julian Nagelsmann drei Rätsel lösen

Julian Nagelsmann spricht mit seinen Spielern<span class="copyright">Imago</span>
Julian Nagelsmann spricht mit seinen SpielernImago

Dreimal griff Julian Nagelsmann in seiner Trainerkarriere nach den Sternen - dreimal griff er daneben. Das soll dem Bundestrainer im EM-Viertelfinale gegen Spanien nicht wieder passieren. Unser EM-Kolumnist Pit Gottschalk analysiert, wo am Freitagabend die Knackpunkte liegen.

Zu den dunklen Geheimnissen von Sportjournalisten am Boulevard gehört, dass bei Turnieren eine Schlagzeile immer griffbereit in der Schublade liegt: „Das Ende einer Mogeltruppe“. Die Überschrift passte perfekt, als Deutschland 1994 im WM-Viertelfinale gegen Bulgarien ausschied.

Oder 2000 in der EM-Vorrunde gegen Portugal (0:3). Zuletzt 2018 im WM-Gruppenspiel gegen Südkorea (0:2). Das Ende einer Mogeltruppe - für die Nationalelf immer ein Armutszeugnis.

Die Gefahr von Team-Bashing besteht nach dem EM-Viertelfinale am Freitagabend nicht. Ganz gleich, wie das Spanien-Spiel ausgeht: Bundestrainer Julian Nagelsmann und die Nationalspieler haben, das vergesse ich nicht, einen gutes Turnier gespielt.

Eine überzeugende EM-Vorrunde, ein packender Achtelfinalsieg gegen Dänemark, Begeisterung in Stadien und an öffentlichen Plätzen, wie Toni Kroos, Jamal Musiala und die anderen auftreten: Eine Niederlage würde daran nichts ändern.

Das alles will ich erwähnt haben, bevor ich eine Statistik präsentiere, die allen Grund zur Nervosität liefert. Nagelsmann bestreitet am Freitag das wichtigste Spiel in seiner inzwischen acht Jahre alten Karriere als Cheftrainer.

Alle Welt wird ihm auf die Finger schauen, wie er aufstellt, wie er aus- und einwechselt, wie er bei Bedarf umstellt. Jetzt beim EM-Turnier hat er bisher alles richtig gemacht. Seine drei größten Spiele bei den Vereinen hat er allesamt verloren.

  • 2020: Champions-League-Halbfinale mit RB Leipzig, 0:3 gegen Paris Saint-Germain

  • 2021: DFB-Pokalfinale in Berlin mit RB Leipzig, 1:4 gegen Borussia Dortmund

  • 2022: Champions-League-Viertelfinale mit dem FC Bayern, raus gegen Villarreal

In bisher 401 Spielen als Cheftrainer seit 2016 holte er 227 Siege und 93 Unentschieden - er verlor 81. Das heißt: jedes fünfte Spiel. Die Zahl beunruhigt mich. Bei seinen zwölf Länderspielen passierte die letzte Pleite im November (beim 0:2 gegen Österreich).

Seitdem gab’s acht Spiele ohne Pleite. Rein rechnerisch ist eine Niederlage also überfällig. Das will er verhindern, logisch. Vor dem größten Spiel seines Lebens muss Julian Nagelsmann dazu noch drei Rätsel lösen.

Rätsel 1: Sané oder Wirtz? Leroy Sané spürte keine Nachwirkung seiner Schambeinverletzung mehr, er ist fit und durfte diese Woche zur DFB-Pressekonferenz. Ein gutes Zeichen, dass er spielt. Man wartet ja darauf, dass er auf dem Rasen endlich explodiert. Florian Wirtz, erst 21, steckt im Formtief. Das ist ärgerlich, weil er ja mit Jamal Musiala (schon drei EM-Tore) ein kongeniales Duo bilden soll. Für Nagelsmann die heikelste Entscheidung.

Rätsel 2: Tah oder Schlotterbeck? Gesetzt war immer Jonathan Tah neben Abwehrchef Antonio Rüdiger in der Innenverteidigung. Dann die Gelbsperre beim Dänemark-Spiel. Nico Schlotterbeck vertrat ihn gut und leitete mit einem traumhaften Steilpass das Musiala-Tor zum 2:0 vor. Das ist seine Stärke: die Spieleröffnung. Seine Schwäche: Er ist ein Bruder Leichtfuß und neigt (wie gegen Dänemark) zur Nachlässigkeit. Tah ist solider. Chance oder Risiko: eine Trainerfrage.

Rätsel 3: Kimmich und Raum? Beide haben die schwerste Aufgabe im Spanien-Spiel: Ihre Gegenspieler sind die Wunderkinder Nico Williams und Lamine Yamal. Beide sind dribbelstark und wendig und eigentlich zu schnell für die beiden deutschen Außenverteidiger. Man kriegt sie nur „im Verbund“ gestoppt, wie’s in der Trainersprache heißt. Auf Fünferkette umstellen, mehr Ballbesitz forcieren oder Doppeldeckung organisieren: Für Nagelsmann wäre das ein Meisterstück.

Und Meisterstück heißt: Hier entscheidet sich das EM-Viertelfinale. Vielleicht kann er sich was von Carlo Ancelotti abschauen, dem Ex-Chef von Toni Kroos bei Real Madrid. Der erfolgreichste Trainer der Champions-League-Geschichte hat einen halben Tag vorm Finale gegen Dortmund einfach mal seine Mannschaftsaufstellung veröffentlichen lassen.

Botschaft: Mir doch egal, wie Ihr spielt - wir spielen so! Selbstbewusstsein pur. Er tat danach, was er mit Real Madrid immer tut: Er gewann das große Spiel - mit 2:0.