EM-Kolumne von Pit Gottschalk - Ein seltener Blick ins Innerste des DFB-Camps verrät, wo der Teamgeist herkommt

DFB-Stars im Training in Herzogenaurach<span class="copyright">Imago</span>
DFB-Stars im Training in HerzogenaurachImago

Unser Kolumnist Pit Gottschalk spürt das neue Wir-Gefühl der Nationalmannschaft genauso wie Millionen von Fans in Deutschland. Der Blick ins EM-Quartier verrät: Das ist kein Zufall. Die neue Lust auf Gemeinsamkeit begann angeblich mit einer Tisch-Idee von Co-Trainer Sandro Wagner.

Kein Foto zeigt den deutschen Teamgeist besser als die Szene nach Manuel Neuers Parade im Ungarn-Spiel: Joshua Kimmich und Jonathan Tah erdrücken ihren Torwart fast vor Freude, schreien wie wild und zerstören sein sorgsam geföntes Haar. Geteilte Freude ist doppelte Freude.

Als Fan spürt man es bei jeder Gelegenheit: Diese Mannschaft ist genau das - eine Mannschaft. Erfolgreiche Grätsche im Mittelfeld: Sofort herzen dich Mitspieler. Gelungene Abwehraktion im Strafraum: umgehend Gratulation unter Brüdern. So geht das ständig bei dieser EM. Nur Zufall?

Grüppchenbildung führte 2018 zu größten WM-Blamage ever

Vor sechs Jahren, als Deutschland in Russland den Weltmeistertitel verteidigen wollte, zerrissen zwei Begriffe die künstlich errichtete Kulisse der Nationalmannschaft: „Kartoffeln“ und „Kanaken“. So teilte sich der WM-Kader selbst in zwei Gruppen, wie hinterher herauskam.

Der Anstand verbietet eine genauere Definition. Was wir heute wissen, ist: Die Nationalspieler haben zwar die Schärfe ihrer Wortwahl später heruntergespielt. Aber die Grüppchenbildung in der Mannschaft war unübersehbar und endete im Vorrunden-Aus - in der größten WM-Blamage ever.

Was Co-Trainer Wagner in China auffiel, bringt er jetzt beim DFB ein

Vom 23-köpfigen WM-Kader 2018 sind heute noch sieben Spieler dabei. Die Torhüter Manuel Neuer und Marc-André ter Stegen, die Bayern-Spieler Joshua Kimmich und Thomas Müller, die Real-Granden Toni Kroos und Antonio Rüdiger sowie Kapitän Ilkay Gündogan.

Die Altgedienten eint das Wissen: Grüppchenbildung ist in einem Mannschaftsquartier niemals förderlich fürs Betriebsklima. Man kennt das aus jeder x-beliebigen Kantine. Verstohlene Blicke vom einen Tisch provozieren am anderen Tisch den Verdacht: Die reden jetzt über uns…

Sandro Wagner, der Co-Trainer von Bundestrainer Julian Nagelsmann, kennt das Gefühl von seinen 18 Monaten als Spieler in China. Es gab den Tisch der Einheimischen, den Tisch der Ausländer und selten das Gefühl der Gemeinsamkeit. Als Trainer wollte er das ändern.

Deutsche Spieler im Training<span class="copyright">Imago</span>
Deutsche Spieler im TrainingImago

 

Im deutschen EM-Quartier in Herzogenaurach, wo sie am Adidas-Campus die Turnierspiele vorbereiten und jede freie Minute miteinander verbringen, sitzen alle, wirklich alle Nationalspieler beim Essen an einem großen langen Tisch. Was hier gesprochen wird, kriegt jeder mit.

Bei der Nationalmannschaft gilt: ein Team, ein Tisch

Man darf die Wirkung der neuen Sitzordnung nicht unterschätzen. Zusammengehörigkeit drückt sich auch in der Möbelauswahl aus: ein Team, ein Tisch. Wer Ruhe sucht oder braucht, zieht sich anschließend in seine eigenen vier Wände zurück. Nähe schließt Rückzugsorte nicht aus.

Was nicht zu sehen ist: Die Bungalow-Gruppen schweißen die Mannschaftsteile zusammen. Die Auswahl der Wohneinheiten ist kein Zufall.

Die drei Torhüter sind ebenso unter einem Dach wie die Kreativen (Wirtz, Musiala, Sané, Gündogan) oder die Stürmer (Füllkrug, Havertz, Müller, Undav).

Alle Wegen führen in den Mittelpunkt des deutschen EM-Camps

Weil die Hausgruppen keinen eigenen Gemeinschaftsraum haben, ist die Absonderung schwerlich möglich. Alle Wege führen zum Adidas Home Ground , wo Liegestühle, Spielekonsole und sogar Cornhole und ein riesiger TV-Bildschirm für die EM-Übertragungen bereitstehen. 

Der Blick hinein ins EM-Quartier verrät die Liebe zum Detail.  Ein bisschen Campo Bahia  geht immer. In der Mitte der Anlage: ein Swimming Pool, wo die Fußballer neckische Spiele aushecken und ein Filmchen drehen, das der DFB öffentlichkeitswirksam ins Internet stellt.

Aufsehen erregte  das inzwischen berühmte Pool-Video  mit David Raum, Niclas Füllkrug, Robert Andrich und Joshua Kimmich. Der Ball flog zwischen ihnen von Beckenrand zu Beckenrand und landete punktgenau in einem Schwimmreifen. Wenn nix zu tun ist, macht man sowas.

Zur Wahrheit gehört natürlich auch: Man kann alles für gute Klima tun - aber die beste Maßnahme sind die Ergebnisse. Bei zwei Siegen mit 7:1 Toren halten alle Reservisten lieber die Füße still und stellen keine Ansprüche auf die Startelf. Man kann da nur sagen: Alles richtig gemacht.

Surftipp: EM-Sieg laut Datenanalyse - Alle KI-Modelle sind sich einig - für den EM-Titel kommt nur ein Team in Frage