Gastbeitrag von Gabor Steingart - Im Kampf zwischen Biden und Trump setzt sich eine unheilvolle Dynamik in Gang

US-Präsident Joe Biden hört während einer Zeremonie zur Verleihung der Ehrenmedaille im Weißen Haus zu.<span class="copyright">Susan Walsh/AP</span>
US-Präsident Joe Biden hört während einer Zeremonie zur Verleihung der Ehrenmedaille im Weißen Haus zu.Susan Walsh/AP

Immer mehr prominente US-Amerikaner stellen in Frage, ob Joe Biden noch der richtige Präsidentschaftskandidat ist. Die Dynamik lässt sich schwer zurückdrehen. Der amtierende Staatschef könnte zu Trumps bestem Mitarbeiter werden, sollte er stur bleiben.

Der Geist ist aus der Flasche: Mit seiner trostlosen TV-Performance hat US-Präsident Joe Biden eine Debatte über seine mentale Gesundheit und den weiteren Verbleib im Amt ausgelöst.

Neu ist: Es wird nicht mehr nur intern getuschelt, sondern öffentlich Stellung bezogen. Sechs Wochen vor dem großen demokratischen Parteitag und 124 Tage vor der Präsidentschaftswahl melden sich seine demokratischen Parteifreunde zu Wort – und erstmals nicht mit Zustimmung oder Ermunterung.

 

„Biden darf uns 2024 nicht an Trump ausliefern“

Den Auftakt lieferte der texanische Kongressabgeordnete Lloyd Doggett – der aus dem Wahlkreis des legendären amerikanischen Präsidenten Lyndon B. Johnson stammt – am Dienstag:

„Ich vertrete das Herz eines Kongressbezirks, der einst von Lyndon Johnson vertreten wurde. Unter ganz anderen Umständen traf er die schmerzhafte Entscheidung, sich zurückzuziehen. Präsident Biden sollte das Gleiche tun.“

Und weiter:

„Präsident Biden hat unsere Demokratie gerettet, indem er uns 2020 von Trump befreit hat. Er darf uns 2024 nicht an Trump ausliefern.“

Gegen die New York Times kann kein Demokrat gewinnen

Ausgelöst wurde die Debatte im demokratischen Lager durch einen kollektiven Aufruf der Kolumnisten der New York Times. Die Zeitung zählt über zehn Millionen Abonnenten und gilt vor allem für das demokratische Wählerspektrum als stilbildend. Gegen sie kann ein Demokrat keine Wahlen gewinnen.

In dem kollektiven Aufruf heißt es:

„Um seinem Land zu dienen, sollte Präsident Biden das Rennen aufgeben.“

Dadurch ist ein Druck im demokratischen Lager entstanden, der die bisherige Schweigespirale beendet hat.

Gestern veröffentlichte Katie Rogers, Weiße-Haus-Korrespondentin für die New York Times, unter Berufung auf einen Biden-Vertrauten – der auf Grund des sensiblen Inhalts anonym bleiben wollte – einen Artikel über Bidens Gedanken, seine Kandidatur zurückzuziehen. Rogers schreibt:

„Präsident Biden hat einem wichtigen Vertrauten gesagt, dass er weiß, dass er möglicherweise nicht in der Lage sein wird, seine Kandidatur zu retten.“

Diese Woche zähle für Biden. Der anonyme Vertraute sagt:

„Er weiß, wenn er noch zwei solche Ereignisse (wie das TV-Duell) hat, sind wir am Wochenende an einem anderen Ort.“

Das Weiße Haus dementiert diese Meldung.

Brutale Drohungen in Richtung von Biden

Ebenfalls unter dem Siegel der von CNN zugesagten Anonymität werden brutale Drohungen in Richtung des Präsidenten ausgesprochen. So zitiert der Sender einen namhaften Demokraten:

„Wir sind zutiefst besorgt über seine Fähigkeit, zu gewinnen. Wir wollen ihm Raum geben, um seine Entscheidung zu treffen [zurückzutreten], aber wir werden unsere Bedenken immer lauter äußern, wenn er es nicht tut.“

Netflix-Mitgründer und Großspender der Demokraten Reed Hastings rief Biden ebenfalls zu einem Rückzug seiner Kandidatur auf:

„Biden muss zurücktreten, damit ein energischer demokratischer Führer Trump schlagen und für unsere Sicherheit und unseren Wohlstand sorgen kann.“

Plötzlich müssen sich alle äußern. Besonders trickreich ist die Wortmeldung der großen, alten Dame der demokratischen Partei, Nancy Pelosi.

Sie vertritt seit 1987 ihren Wahlkreis im Repräsentantenhaus auf Capitol Hill und war von 2007 bis 2011 sowie von 2019 bis 2023 Sprecherin des Parlaments. Im Interview mit Andrea Mitchell von MSNBC sagte sie:

„Es ist eine legitime Frage, zu sagen: ‚Ist das eine Episode oder ist das ein Zustand?‘“

Gefragt, wie es denn jetzt weitergeht, sagte sie:

„Ich bin keine Ärztin.“

Nancy Pelosi legt dem Präsidenten eine Konfrontation mit der Öffentlichkeit nahe:

„Ich empfehle ihm, einige Interviews mit seriösen Journalisten zu führen. Seriöse Journalisten, die nichts auslassen. Jede Frage ist fair.“

Ein Wohlfühltermin könnte Biden retten

Gesagt, getan: Nicht die Ärzteschaft, sondern die Öffentlichkeit soll ihn auf den Prüfstand stellen. Am Freitag wird sich Biden dem Journalisten George Stephanopoulos anvertrauen. Der Top-Journalist von ABC News war einst Kommunikationschef unter Bill Clinton. Er gehört zur Familie. Für Joe Biden ein Wohlfühltermin.

Biden selbst lehnt einen Rückzug jedoch weiter ab. In einem Brief an seine Unterstützer schrieb er:

„Lassen Sie es mich so klar und einfach wie möglich sagen: Ich kandidiere. Ich bin der Kandidat der Demokratischen Partei. Niemand verdrängt mich.“

Das Weiße Haus in der Defensive: Eine Sprecherin lehnte die Idee einer neurologischen Untersuchung des Präsidenten ab. Das letzte Gesundheitsgutachten stammt vom 28. Februar 2024 und wurde durch Bidens Performance bei der TV-Debatte vor über 50 Millionen Zuschauern am vergangenen Donnerstag widerlegt.

 

Ein umnachteter Biden ist Trumps wertvollster Mitarbeiter

Fazit: Die Frontstellung der Wahlauseinandersetzung hat sich fundamental verändert: Ein Joe Biden, der am helllichten Tag umnachtet wirkt, ist nicht mehr der effektive Gegner von Trump, sondern dessen wertvollster Mitarbeiter. Alle ahnen das, nur er nicht. Oder um es mit dem griechischen Tragödiendichter Sophokles zu sagen:

„Wen die Götter vernichten wollen, den schlagen sie mit Blindheit.“