Gastbeitrag Gabor Steingart - Wackelt das Verbrenner-Aus? 7 Gründe, warum von der Leyen jetzt hart bleiben muss

Autozüge stehen auf dem Rangierbahnhof im Bremer Stadtteil Gröpelingen (l), recht im Bild: Ursula von der Leyen<span class="copyright">Sina Schuldt/dpa; Virginia Mayo/AP/dpa</span>
Autozüge stehen auf dem Rangierbahnhof im Bremer Stadtteil Gröpelingen (l), recht im Bild: Ursula von der LeyenSina Schuldt/dpa; Virginia Mayo/AP/dpa

Im politischen Machtspiel setzt Ursula von der Leyen ihre Wiederwahl als EU-Kommissionspräsidentin aufs Spiel. Falsche Kompromisse beim Verbrennerverbot könnten das Ende ihrer zweiten Amtszeit bedeuten.

Das Wesen der Demokratie sei der Kompromiss, heißt es oft. Aber dieser Satz beschreibt in Wahrheit nur eine Sekundärtugend der Demokratie und damit zugleich ihre größte Schwäche.

Denn jede Entscheidung muss sich am Ende nicht daran messen lassen, wie raffiniert sie zustande kam, sondern ob sie klug oder unklug war. Ob sie den Wohlstand fördert oder dezimiert, die Gesellschaft stärkt oder schwächt.

Das Problem: Wenn der Kompromiss bei der Erreichung guter Ergebnisse hinderlich ist, ist er ein fauler und am Ende für die Demokratie toxischer Kompromiss. Auf der Fäulnis falscher Kompromisse wächst die Sehnsucht nach dem autoritären Führer.

Womit wir bei Europa und dem im Februar 2023 beschlossenen Aus für den Verbrennungsmotor wären. Diese Entscheidung, die besagt, dass ab 2035 nur noch Elektroautos in Europa zugelassen werden dürfen, steht nach der Europawahl erneut auf der Tagesordnung.

Die siegreichen Konservativen in Europa haben versprochen, das Verbrenner-Aus zu kippen. Sozialisten, Sozialdemokraten und Grüne haben versprochen, es zu bestätigen.

Kompromiss ist manchmal nur ein anderes Wort für Käuflichkeit: Ursula von der Leyen steht in der Versuchung, beim Verbrenner-Aus einen Kompromiss mit ihren Gegnern zu schmieden, um damit deren Stimmen für ihre zweite Amtszeit zu erwerben. Doch es gibt sieben wirklich gute Gründe für Ursula von der Leyen, hart zu bleiben und diesmal nicht umzukippen.

# 1 Ursula von der Leyen riskiert ihre Wiederwahl

Eine Bestätigung des Verbrenner-Aus wäre für die Konservativen in Europa der eine Kompromiss zu viel. Manfred Weber und viele andere führende Politiker der EVP haben im Europawahlkampf versprochen, das Verbot mit Beginn der neuen Legislaturperiode zu kippen.

Der Bruch dieses Versprechens hat eine ethische, aber auch eine machtpolitische Dimension. In der Sekunde, in der Frau von der Leyen an dieser Stelle weich wird, verhärten sich ihre zahlreichen Gegner im konservativen Lager.

Wichtig zu wissen: Es gibt nur eine einzige und noch dazu geheime Wahl für die Spitze der Kommission. Wer durchfällt, ist raus. Im zweiten Wahlgang muss ein neuer Kandidat aufgestellt werden.

# 2 Die Elektromobilität ist weltweit – noch – eine Nische

Die Elektromobilität wird sich weltweit nicht auf die Schnelle durchsetzen können. Derzeit sind global rund 1,6 Milliarden Fahrzeuge auf den Straßen unterwegs – rund 98 Prozent davon Verbrenner. Mit einem jährlichen Neuwagenabsatz von rund 75 Millionen Fahrzeugen – und davon nur ein kleiner Teil elektrisch – bleibt die schnelle Elektrifizierung aller Verkehre eine Utopie.

Die Kräfte der Beharrung sind enorm, weil sich in weiten Teilen der Welt weder eine Elektrozapfsäule befindet noch die notwendige Kaufkraft.

Ein VW ID.3 für 36.900 Euro erfordert in Deutschland rund 1,3 Netto-Jahresgehälter eines ledigen Durchschnittsarbeiters ohne Kinder (28.729 Euro). In Polen ist es mehr als das Doppelte, in Rumänien fast das Vierfache. Die sozialen Wirkungen des Verbrenner-Aus sind für Europa dramatisch.

Bosch-Chef Stefan Hartung glaubt daher auch nicht, dass es sich hier nur um ein Übergangsphänomen handelt. Er sagt:

„Ein Teil der Mobilität wird am Ende gar nicht elektrisch sein.“

# 3 Elektromobilität stockt auch in Europa

Die Autoverkäufe insgesamt laufen nicht gut in Europa. Über alle Antriebsarten hinweg schrumpfte der Markt um rund drei Prozent auf knapp 912.000 Fahrzeuge.

Besonders schlecht allerdings verkaufen sich derzeit Elektroautos. EU-weit sanken die E-Auto-Neuzulassungen im Mai gegenüber dem Vorjahresmonat um zwölf Prozent auf 114.308 Pkw, der Anteil der Elektromobile an den verkauften Neuwagen lag damit nur noch bei 12,5 Prozent.

Bloomberg berichtet:

\u0009Die Autohersteller haben mit dem schleppenden Absatz von E-Fahrzeugen zu kämpfen, da die Autofahrer durch die hohen Anschaffungskosten und die mangelhafte Ladeinfrastruktur abgeschreckt werden."

# 4 Protektionistische EU-Handelspolitik treibt die Preise

Die Europäische Union treibt mit ihren Strafzöllen auf chinesische Elektroautos die Preise in den Autohäusern weiter nach oben: Europäische Bürger sollen zwar fleißig Elektroautos kaufen, aber eben nicht die chinesischen. Bis zu 38,1 Prozent sollen die Sonderzölle auf Elektroauto-Einfuhren aus China betragen. So kommt es zur millionenfachen Kaufzurückhaltung.

# 5 Der Staat arbeitet gegen den Staat

In etlichen Ländern, vorneweg in Deutschland, wurden die Kaufprämien zum Erwerb eines Elektroautos und zum Bau einer heimischen Ladeinfrastruktur gestrichen. So auch ein Programm, das mit rund 200 Millionen Euro in 2024 in private Ladestationen – plus die dazugehörigen Solaranlagen und Stromspeicher – investieren sollte.

Kaum hatte die Bundesregierung ihr Bonusprogramm für die Käufer von E-Autos storniert, sausten die Neuzulassungen im Januar 2024 um rund 59 Prozent gegenüber dem Vormonat nach unten. Für das ganze Jahr 2024 prognostizieren die Experten des Verbands der Automobilindustrien einen Rückgang der E-Auto-Neuzulassungen in Deutschland von 14 Prozent.

# 6 Autoindustrie nimmt ihre Elektroautopläne zurück

In der Autoindustrie hat sich Ernüchterung breitgemacht. Stellantis NV und die Mercedes-Benz Group AG haben die Arbeit an zwei EV-Batteriewerken in Deutschland und Italien auf Eis gelegt. VW hat im letzten Monat zugegeben, dass es mehr Plug-in-Hybride braucht. Mercedes plant, Autos mit Verbrennungsmotor länger als erwartet zu verkaufen.

Die Annahmen des Marktes in Bezug auf Elektrofahrzeuge „waren zu optimistisch“, so die Analysten der amerikanischen Citibank:

„Die Investitionen müssen gekürzt werden.“

# 7 Probleme bei Stromerzeugung und -verteilung

Zunehmend dringt ins Bewusstsein, dass Elektroautos nur dann umweltfreundlich sind, wenn sie mit grünem Ökostrom betankt werden. Derzeit liegt der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung in Italien nur bei 43 Prozent, in Polen bei 27 Prozent und in den Niederlanden bei 35 Prozent.

Hinzu kommt, dass trotz großer Investitionsprogramme – die meisten davon von der EU gefördert –, der Ausbau der Ladeinfrastruktur im Süden Europas nicht besser vorankommt als im Norden. Vor allem an der Peripherie, also auf Malta, in Irland und auf Zypern, sind ganze Landstriche ohne Zapfsäule.

Das bedeutet: Das Elektroauto trifft an vielen Orten in Europa auf eine fossile Energiebasis, die seine segensreichen Wirkungen aufhebt. Oder anders ausgedrückt: Elektromobilität und Stromerzeugung müssen gemeinsam gedacht werden.

Fazit: Die neue EU-Kommission sollte vom Verbieten aufs Fördern umschalten. Und China mit seinen preisgünstigen Elektroautos nicht als Feind, sondern als Vorbild betrachten. Wenn Ursula von der Leyen die soziale und ökonomische Komplexität des Themas nicht begreift, hat sie ihre Wiederwahl nicht verdient. Für sie wäre der faule Kompromiss nicht nur faul, sondern politisch tödlich.