Kommentar: Das Märchen vom Freibäderkrieg

Als hätte man die Uhr gestellt: Verlässlich regt sich eine Debatte darüber, wie sicher noch die Freibäder sind. Die einen schildern sie wie in einem Ausnahmezustand. Und die anderen schauen auf die Zahlen.

An heißen Tagen begehrt: Freibäder wie das Sommerbad in Berlin-Kreuzberg (Bild: REUTERS/Hannibal Hanschke)
An heißen Tagen begehrt: Freibäder wie das Sommerbad in Berlin-Kreuzberg. (Bild: REUTERS/Hannibal Hanschke)

Ein Kommentar von Jan Rübel

Beatrix von Storch war neulich ganz nah dran an der Realität. Sie stellte sich auf den Bürgersteig vorm geschlossenen Sommerbad in Berlin-Neukölln und versuchte sich in Aufklärung: "Herr Scholz, Sie leben nicht in der Realität", adressierte die AfD-Politikerin den Bundeskanzler. Der hatte versucht, Szenen der Gewalt in deutschen Freibädern zu erklären, hatte von jungen Männern gesprochen. Für von Storch ist die Sache natürlich klar: Die Migranten sind's gewesen.

Nur für diesen Aufsager war sie nach Neukölln gefahren, für einen Propagandaclip. Was die Stippvisite der mit Steuermitteln bezahlten Parlamentarierin auf dem Bürgersteig mit Realität zu tun hat, erklärte sie nicht. Aber Propaganda und Realität, ich vergaß, schließen sich ja aus. Da erübrigt sich direkt die Frage, wie intensiv von Storch die Umstände "vor Ort" recherchiert hat, ob sie etwa mal die Liegewiese oder den Beckenrand inspiziert hatte, bevor das Bad zeitweilig schloss.

Der AfD geht es gut, wenn es dem Land schlecht geht, das geben ihre Kader offen zu. Und wenn es nicht rund läuft im Schlechtsein, wird halt nachgeholfen. Die alljährliche Freibaddebatte im Sommer kam wie gerufen.

Ach, damals…

Die Sozialen Medien quellen über mit Fotos aus vergangenen Jahrzehnten, sie dokumentieren eine Idylle zwischen Kiosk und Sonnenmilch. Klar, früher war alles besser, so lautet die AfD-Devise. Damit kauft man sich, unabhängig vom Wahrheitsgehalt, für die Gegenwart zwar keinen Blumentopf, aber darum ging es der Partei nie. Jedenfalls gab es in den letzten Wochen tatsächlich Gewaltakte in Bädern. Bademeister wurden attackiert, Badegäste angegriffen. In Berlin muss man in einigen Bädern den Ausweis vorzeigen, es patrouilliert Security. Gab es früher nicht. War deshalb alles Lametta? Glaube kaum.

Anstatt voreilig über die Hintergründe für diese Missetaten zu sinnieren, lohnt sich ein Blick auf die Statistik. Wie viel Gewalt, wie viel Bambule gab es denn nun in diesem Sommer am Beckenrand?

Die einer erregten Berichterstattung unverdächtige "FAZ", welche dennoch recht abendländisch daherkommt, hat sich die Zahlen besorgt. Die Zeitung zitiert Eric Voß von der Deutschen Gesellschaft für das Badewesen e.V., er arbeitet seit 25 Jahren in der Branche und "spricht von 17 bis 20 Vorfällen, die er in den letzten vier Wochen gezählt habe – bei 3000 Bädern in Deutschland." Zu diesen Vorfällen zähle alles von Beleidigungen und Drohungen bis hin zu körperlicher Gewalt, sagte er der "FAZ". Der migrantische Hintergrund spiele eine Rolle, aber nicht nur: "In der Coronazeit hatten wir ziemlich viele Stammkunden, die gedroht haben, als sie ihren Ausweis vorzeigen mussten."

Aber Berlin, ist es vielleicht in Berlin besonders schlimm? Sozusagen aus dem Ofen des Molochs? Auch hier gibt es Zahlen. Im Jahr 2022 sprachen die Berliner Freibäder laut "FAZ" 133 Hausverbote aus, 2018 waren es 572. Die Berliner Polizei vermerkte 2022 in 26 Berliner Freibädern 57 Gewaltdelikte. 2018 war in 77 Fällen der Tatort "Freibad" vermerkt.

Schon immer ein spezieller Ort

Also: Ein Trend, der alarmieren sollte, ist nicht erkennbar. Oder meinte von Storch die berühmten gefühlten Fakten? Natürlich gibt es oft Stress in Freibädern, und in urbanen Zentren sind nicht selten männliche Jugendliche und junge Männer mit Einwanderungsgeschichte mittendrin. Was da falsch läuft, gehört angegangen. Überhöhte Beziehungen zu Gewalt mögen eine Rolle spielen, eine Art Revierdenken, auch ist ein Freibad schon immer ein besonderer öffentlicher Ort gewesen, an dem man sich "nackig" machte und Erfahrungen aus dem Alltagsleben verarbeitete – negative wie positive.

Und es "den Migranten" in die Schuhe zu schieben, ist natürlich ein vorsätzlicher Move. Stress gibt es von Deutschen, die den Ariernachweis bestehen würden, natürlich auch. Vielleicht waren die Temperaturen in den vergangenen Tagen auch besonders heiß und stiegen Manchem zu Kopfe – aber da halte ich lieber still, wenn ich nämlich nun den Klimawandel anbringe, kommt von Storch aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr raus.

Das Märchen von den Freibäderkriegen neigt sich bereits seinem Ende zu.

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