Ein Kommentar von Hugo Müller-Vogg - Genossen kapieren es nicht: Gender-Idee zeigt, wie weit SPD vom Volk entfernt ist

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Stimmkarten werden während eines SPD-Parteitags hochgehalten.Daniel Bockwoldt/dpa

Die Berliner SPD will bestimmte Bürgerämter in Bürger*innen-Amt umbenennen und hat weitere Gleichberechtigungs-Ideen. Das mag für eine kleine Klientel wichtig sein, ignoriert aber die Lebensrealität der übergroßen Mehrheit. Doch die Genossen scheinen das einfach nicht zu kapieren. Oder sie ignorieren es auf dem Weg in weitere Wahlniederlagen.

„Die SPD braucht ein neues Godesberg. Sie muss darüber nachdenken, warum sie den Touch zur Bevölkerung verloren hat“. Das stammt nicht von irgendeinem Politikprofessor. Das sagte kürzlich Sigmar Gabriel, einst der starke Mann der Sozialdemokraten , heute als Kritiker von außen weniger geschätzt.

Von den eigenen Genossen nicht Recht zu bekommen, schließt noch lange nicht aus, Recht zu haben. Wahlergebnisse lügen bekanntlich nicht. Die der SPD sind katastrophal schlecht. Im Kampf um Platz 2 im Parteiengefüge hinter der AfD vor sich hinzudümpeln, das ist kein Zeichen von Stärke.

SPD will das „Bürger*innenamt"

Aber die Genossen im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg mit hohem Ausländeranteil glauben zu wissen, was die Menschen dort besonders beschäftigt. Nur so lässt sich der Vorstoß der örtlichen SPD erklären, die drei Bürgerämter in diesem Bezirk umzubenennen – in „Bürger*innenamt“.

Mag ja sein, dass die örtlichen Frauenbeauftragten bei SPD, Linken und Grünen vor Begeisterung mit der Zunge schnalzen. Auch die vielen Soziologen in der Partei sind sich wohl sicher, dass sich mit einem so einfachen Akt Friedrichshain-Kreuzberg in ein wokes Paradies umwandeln lässt.

Der entsprechende Antrag der SPD für die Bezirksverordnetenversammlung bringt auf den Punkt, wonach sich die Menschen – jedenfalls nach Ansicht der „Genoss*innen“ – in ihrem Kiez geradezu sehnen: „Durch weitere sprachliche Sensibilisierung öffentlicher Einrichtungen (…) bekräftigt der Bezirk seine Pflicht, queeres Leben öffentlich auch sprachlich zu repräsentieren.“

 

Und weiter: Die SPD will mit der neuen Schreibweise die Frauen ebenso berücksichtigen wie alle Menschen, die sich keinem der beiden Geschlechter zuordnen. Mit dem Sternchen soll sogar „ein Signal über die Bezirksgrenzen hinaus“ gesetzt werden. Da möchte man doch gleich das sozialistische Kampflied anstimmen: „Völker, hört die Signale!“

Ob wenigstens die Menschen, die die SPD eigentlich adressieren will, im unteren Einkommenssegment, in diesem linksgrünen Bezirk das Signal verstehen? Man kann sie sich förmlich vorstellen, die Aldi-„Kassierer*in“, die sich im „Bürger*innenamt“ endlich ernstgenommen fühlt. Oder die Putzhilfe, der die „Sprachliche Repräsentation“ von Lesben, Schwulen bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen und queeren Menschen schon immer ein Herzensanliegen war.

Sind das die Themen für Bürgergeld-Bezieher oder Arbeiter mit Mindestlohn?

Auch werden Bürgergeld-Bezieher oder Arbeiter mit Mindestlohn, die das umbenannte Amt aufsuchen, ihre prekäre ökonomische Lage dank des neuen Labels besser ertragen. Wer wollte daran zweifeln? Schließlich macht die gegenderte Amtsbezeichnung sie sicherlich stolz, in einem so aufgeschlossenen, toleranten Bezirk leben dürfen.

Schluss mit der Ironie: Man fragt sich ernsthaft, ob Politiker in erster Linie Rahmenbedingungen für ein besseres Leben der Bürger schaffen oder sich in ihrer woken Blase wohlfühlen wollen, ob sie die Sorgen der Mehrheit ernst nehmen oder den Anliegen jeder noch so kleinen Minderheit Priorität einräumen, ob sie den Menschen das Leben erleichtern oder sie bevormunden wollen.

Der Unsinn mit dem „Bürger*innenamt“ wird sich durchsetzen, weil die SPD mit ihren beiden größeren Koalitionspartnern Grüne und Linke über die Mehrheit verfügt. Damit soll eine angebliche Diskriminierung beendet werden, obwohl sich kein vernünftiger Mensch diskriminiert fühlen dürfte, wenn über der Eingangstür Bürgeramt steht statt ein in der deutschen Sprache gar nicht existierendes Kunstwort.

Zwischen 70 und 80 Prozent lehnen das von einer überheblichen Minderheit propagierte Gendern ab. Gleichwohl demonstriert die SPD auch in diesem Fall, wie sehr sie „den Touch zur Bevölkerung“ verloren hat. Ohnehin ist die Scholz-SPD schon lange keine Volkspartei mehr. In ihr geben vielmehr Lifestyle-Linke den Ton an, die auf Parteitagen mit markigem Blick „Mann der Arbeit, aufgewacht!“ anstimmen, selbst aber noch nie außerhalb der Politik einer produktiven Tätigkeit nachgegangen sind.

SPD und Grüne verlieren in links-grünem Viertel

In Friedrichshain-Kreuzberg sind die Genossen in extremer Weise „out of touch“. Selbst dort, in einem links-grünen Viertel, erzielten sie bei der Europawahl gerade noch 10,2 Prozent. Auch die moralisierend und überheblich daherkommenden Grünen verloren 8,9 Prozentpunkte und fielen auf 31,9 Prozent zurück. Dafür erzielte das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ aus dem Stand 6,9 Prozent. Die Pointe: Deren Gründerin macht sich gern über die „Strenggläubigen“ Gendersternchen-Befürworter lustig.

Mag ja sein, dass sich die Genossen in Friedrichshain-Kreuzberg bei Wortschöpfung mit Genderstern und „Schluckauf-Sprechweise“ auf der richtigen Seite der Geschichte fühlen. Wenn sie untereinander so sprechen, mögen sie das tun.

Der Bezirk hat jedoch keineswegs die „Pflicht, queeres Leben öffentlich auch sprachlich zu repräsentieren“. Natürlich müssen Kommunalpolitiker darauf achten, dass Minderheiten respektiert und nicht diskriminiert werden.  Und sie müssen sich für die Gleichberechtigung der Frau einsetzen. Aber selbst unter Frauen wird das Gendern nicht als besonders wichtiges Thema gesehen. Also ein Anliegen der Minderheit in den Mittelpunkt der Politik zu stellen, heißt die Mehrheit zu vernachlässigen.

Apropos Pflicht: Bürgerämter sind für viele Dienstleistungen zuständig: Anmelden der Wohnung, Beantragung einer Geburtsurkunde oder eines Ausweises. Wenn sie das ohne die in Berlin üblichen lange Wartezeiten schaffen, tun sie ihre Pflicht. Sprachliche Umerziehung zählt jedenfalls nicht zu ihrem Kerngeschäft.