Rezension von Thomas Jäger - Trat mit Wagenknecht auf: Ex-Merkel-Berater verbreitet Putin-Propaganda in neuem Buch

Erich Vad 2010 mit der damaligen Kanzlerin Angela Merkel<span class="copyright">Reuters</span>
Erich Vad 2010 mit der damaligen Kanzlerin Angela MerkelReuters

Erich Vad, ehemaliger Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel, hat mit seinem neuen Buch „Abschreckend oder erschreckend? Europa ohne Sicherheit“ die Debatte über die Zukunft der Sicherheitspolitik neu entfacht. Unser Gastautor rezensiert das Buch.

Erich Vad, von 2006 bis 2013 militärpolitischer Berater von Bundeskanzlerin Merkel, war in der deutschen Öffentlichkeit bis zum vollen Angriff Russlands auf die Ukraine am 24.Februar 2022 wenig bekannt. Das änderte sich dann schlagartig, denn Vad war danach häufiger Gast in Talk-Shows und fiel durch sehr klare Aussagen auf. Die lagen ab und an daneben, was in sozialen Medien mit großer Häme quittiert wurde.

„Hannibal kommt nie über die Alpen, Erich Vad 218 vor Christus“ oder „Hannibal wird es nicht wagen, Rom anzugreifen. Er ist nicht der Wahnsinnige, den hier immer alle zeichnen, Erich Vad 216 vor Christus“ oder „Ich glaube nicht, dass die Japaner eine Chance gegen die überlegene russische Marina haben, Erich Vad 1905“ oder „Meiner Einschätzung nach ist es unmöglich, den Mount Everest zu besteigen, Erich Vad 1953“ oder „Das Internet wird sich niemals durchsetzen, Erich Vad 1997“ spielten mit diesen Aussagen.

Aufmerksamkeit in den Sozialen Medien

Vad-Memes nahmen ein Ausmaß an, das ihn wohl veranlasste, sich aus der öffentlichen Diskussion weitgehend zurückzuziehen. Er trat noch bei Demonstrationen mit Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer auf und äußerte seine Analysen gegenüber der russlandgeneigten „Weltwoche“. Mit seinem neuen Buch „Abschreckend oder erschreckend? Europa ohne Sicherheit“ gibt er nun Einblick in sein Denken über Sicherheitspolitik, Krieg und die geopolitische Lage.

Dabei erinnert das Buch an den Elefanten, der in einem dunklen Raum von verschiedenen Menschen ertastet werden soll – und wonach jeder eine völlig andere Beschreibung gibt.

Theoretische Zugänge

Wer das Fazit liest, mit dem Vad seine Gedanken zusammenzufassen vorgibt, wird denken, dass das alles sehr vernünftig und überlegenswert ist. Er beschreibt darin die Aufgaben, vor denen Deutschland, die EU und die NATO stehen, um in Zukunft für Sicherheit zu sorgen, wobei er äußere und innere Sicherheit berücksichtigt. Das Problem der Führung in der EU, die Aufgabe, den europäischen Pfeiler in der Nato zu stärken und die Perspektive einer EU mit stärkeren militärischen Fähigkeiten werden hier diskutiert.

Wer insbesondere die theoretischen Zugänge erfasst, die Vad nutzt, um ein klareres Bild der Lage zu zeichnen – knapp gesagt: Clausewitz und die Differenzierung von Kriegsformen – wird stärker mit den Grundlagen von Vads Denken vertraut, auch mit den Schwächen. Denn er setzt diese Analyse von klugen Ausgangspunkten ausgehend, nicht konsequent um.

Zwischen öffentlicher Präsenz und russischer Propaganda

Wer schließlich den Autor sucht, der neben Sahra Wagenknecht auftrat und vorzugsweise in russischen Propagandamedien zu sehen ist, wird ebenso fündig, denn Vad verbreitet Versatzstücke russischer Propaganda auch in diesem Buch weiter. Da stellt sich die Frage: Wie passen diese drei verschiedenen Ebenen zusammen? Die Antwort ist: erst einmal gar nicht. Doch liegt darin auch eine Chance.

Fangen wir mit der russischen Propaganda an. Die beginnt damit, dass Vad behauptet, dass der Krieg in der Ukraine als innerstaatlicher Konflikt begann, was inzwischen tausendfach widerlegt wurde. Nach 2014 sei dann der Stellvertreterkrieg in Gang gesetzt worden, wobei Vad die Annexion der Krim und Russlands Krieg im Donbas auf eine Stufe mit den Beziehungen von USA und EU zur Ukraine stellt. Das Ziel des Westens, das mit diesem Stellvertreterkrieg erreicht werden soll, sei die Zerstörung Russlands.

Spekulationen über nukleare Bedrohungen

Vad ist noch unschlüssig, ob alleine ein Regimewechsel in Moskau, die Besetzung, Zerschlagung oder gar Vernichtung Russlands angestrebt wird. Das ist nun, man kann es nicht höflicher sagen, ausgemachter Unsinn. Es hat mit der Realität nichts, mit russischer Propaganda zur Legitimierung eines Vernichtungskriegs gegen die Ukraine hingegen sehr viel zu tun.

Da darf dann auch Putins Nukleardrohung nicht fehlen: „Ein nuklearer russischer Vergeltungsschlag, der Schrobenhausen träfe, scheint mir insofern kein völlig abwegiger Gedanke.“ Denn bevor Russland die Krim aufgeben müsste, würde es „mit hoher Wahrscheinlichkeit Atomwaffen einsetzen“.

Anti-amerikanische Rhetorik und geopolitische Strategien

Daran schließt sich dann der anti-amerikanische Stoß an: das würde Europa treffen, wäre „aber angenehm weit weg von den amerikanischen Küsten“. Das „angenehm“ streicht sich wohl ein Oskar Lafontaine an, wenn er das Buch liest und fragt sich, warum er selbst nicht auf diese Formulierung kam.

Parallel dazu schreibt Vad entlang der Clausewitz´schen Kriegstheorie darüber, welche Herausforderungen die geopolitischen Veränderungen aufwerfen. In dieser Sicht geht es Russland vor allem um die Dominanz über die Region des Schwarzen Meers. Darin sieht Vad die ausschlaggebende Kriegsursache: „Aus strategischen Interessen, dem Zugang zur Schwarzmeerregion, hat Russland die Ukraine überfallen.“

Vads Betrachtung der Feindbilder

Während Clausewitz die weltanschaulichen Positionen Putins, die Ukraine sei ein westliches anti-russisches Konstrukt, weit stärker in seine Analyse einbezogen hätte und damit auch den Angriff auf Kiew erklären könnte, konzentriert sich Vad auf die Generierung von Feindbildern, die nötig seien, um den Krieg zu legitimieren – und zwar auf beiden Seiten, Russlands und der Unterstützer der Ukraine.

Für Vad liegt die Ukraine nun mal in der russischen Einflusssphäre, weil…, ja weil das Russland so sieht. Dieses Interesse Russlands, die Ukraine einzunehmen, setzt Vad gleich mit den Interessen der osteuropäischen Staaten, in die Nato aufgenommen zu werden. „Ihre Interessen waren genauso berechtigt, wie Russland es bei seinen eigenen empfindet.“ Darum geht es Vad: Ideen sind Romantik, Interessen die harte Währung der internationalen Politik. Und da haben Russland, die EU und die USA eben ganz unterschiedliche Interessen, die es in Einklang zu bringen gilt, wenn Kriege verhindert oder beendet werden sollen.

Übersehen von Ideen

Vad unterschätzt die Bedeutung von Ideen für Interessen, vor allem aber bekommt er eine zentrale Differenzierung von Clausewitz nicht in den Griff. Er schreibt: „Diplomatie, Interessenausgleich, Verständigung und Konfliktbewältigung müssen jetzt unser politisches Ziel sein.“ Das klingt landläufig vernünftig, sieht man vom Singular ab, bis man anfängt gründlich darüber nachzudenken.

Denn das, was Vad aufzählt, sind keine Ziele, sondern Mittel, um Ziele zu erreichen. Und wer das verwechselt, kann nicht konsequent über Interessen und ihre Durchsetzung nachdenken. Deshalb klingt Vads Lösung für den Krieg in der Ukraine, auf die ich noch zu sprechen komme, eingängiger als sie ist.

Notwendige Neuausrichtung von EU und NATO

Dass EU und Nato in ein neues Verhältnis gelangen müssen, indem die europäischen Staaten nicht weiterhin als Trittbrettfahrer Sicherheitsleistungen aus den USA für selbstverständlich halten, ist eine dritte Ebene von Vads Analyse. Er bemängelt die unzureichende Ausstattung der Bundeswehr und befürwortet ihre Ausrüstung mit effektiven militärischen Fähigkeiten.

Mehr Geld für die Bundeswehr, drei Prozent vom BIP, war in der Vergangenheit „gut angelegt“. Umfassendere Ausrüstung und Aufstockung der Bundeswehr seien nötig, bis hin zur Wehrpflicht, sollte „Russland zu einer nochmals gesteigerten, massiven Bedrohung für Nato-Europa werden“.

Die Bundeswehr müsse auch zur Verteidigung des Baltikums befähigt sein. Die massive Bedrohung durch Russland sei nicht die einzige: auch vom Süden Europas, dem Mitteleren Osten und im Indo-Pazifik gingen Bedrohungen für Europa aus. Auch China versuche, „sich Europa machtpolitisch einzuverleiben“. Seine Schlussfolgerung: Europa muss autonomer werden, aus eigener Kraft handlungsfähig. Doch sei dies derzeit nur in der Allianz mit den USA möglich. Die Europäer seien „militärisch von den USA abhängig und werden es auch noch eine Weile bleiben“. Die USA und EU können „die neuen globalen Machtverhältnisse mit Blick auf Russland und China nur gemeinsam ausbalancieren“.

Vorschläge für die Ukraine

Für die Ukraine sieht Vad eine realistische Lösung darin, dass Russland den Donbas und die Krim erhält, die Ukraine im Gegenzug Mitglied der Nato wird. Friedensverhandlungen müssten aus Europa, besonders aus Deutschland angestoßen werden. Gesichtswahrend für Putin und unter gegenseitiger Akzeptanz der Sicherheitsbedürfnisse. Falls China nicht der deutschen Regierung zuvorkommt und die Europäer damit düpiert. Und: „Natürlich geht nichts, ohne die Ukraine an Bord zu holen.“ Was für eine Formulierung! Als sei in der Politik irgendetwas „natürlich“ und als sei die Ukraine ein Reisegast. Da kehrt Vad wieder zu seiner ersten Ebene zurück.

Gerade in dieser Vielschichtigkeit ist das Buch jedoch mit Gewinn zu lesen, weil sich nachvollziehen lässt, wie Vad, der jahrelang im Bundeskanzleramt arbeitete, denkt. Über Merkel, die er beriet, hätte man sicher gern mehr erfahren. Wenige Hinweise gibt es, die darauf hindeuten, dass Merkel weniger auf die Ziele ihrer Sicherheitspolitik bedacht war, als auf die Mittel.

Dass die Bundesregierungen es „bewusst verschlafen“ haben, die Bundeswehr einsatzbereit zu halten, ist eine dieser Aussagen, für die sich die Lektüre lohnt. Wenn gleichzeitig das Interesse an Clausewitz´ Denken und den verschiedenen Kriegsformen geweckt werden, trägt das Buch zur notwendigen sicherheitspolitischen Debatte bei. Denn es holt Leser mit ganz unterschiedlichem Vorwissen ab und führt sie in eine sicherheitspolitische Analyse, die Ausgangspunkt für eine produktive Debatte sein kann. Und die ist in Deutschland dringend nötig.

Erich Vad: Abschreckend oder erschreckend? Europa ohne Sicherheit, Westend-Verlag, Neu-Isenburg 2024