Kommentar: Wohnraum – eines der wahren Probleme Deutschlands

Es gibt Krisen, über die redet das ganze Land: Wenn es um Wärmepumpen oder Migration geht, ist Erregung schnell mit dabei. Und es gibt andere Krisen. Über die redet kaum jemand. Wie zum Beispiel die steigenden Mieten und der immer knapper werdende Wohnraum. Dabei ist das wirklich existenziell.

Hochhäuser in Frankfurt am Main beim Sonnenuntergang (Bild: REUTERS/Kai Pfaffenbach)
Hochhäuser in Frankfurt am Main beim Sonnenuntergang. (Bild: REUTERS/Kai Pfaffenbach)

Ein Kommentar von Jan Rübel

In unserer Republik gibt es Abstiegsängste. Die herrschten immer vor, der bange Blick nach unten ist meist stärker als der hoffnungsvolle nach oben. Aber manchmal geht da etwas durcheinander. Menschen zum Beispiel, die nach Deutschland einwandern, werden zuweilen als Rivalen um Wohlstand gesehen – obwohl sie es meist nicht sind. Die Wärmepumpe wurde in Teilen als Bedrohung des Eigenheims empfunden. Und der Krieg in der Ukraine als Kostenfaktor hierzulande, von dem sich Mancher gern abkoppeln möchte.

Dann gibt es Probleme, über die man nicht zu diskutieren braucht, weil sie schlicht nicht zu ignorieren sind, wie etwa die Inflation. Die trifft jeden. Zwar unterschiedlich hart, aber immerhin.

Und schließlich gibt es faktische Probleme, über die sich niemand aufregt. Die werden hingenommen, als handele es sich im Schicksal. Selbst eine Hoffnung an die Politik, dass sie endlich etwas unternehme, wird nicht formuliert. Krasserweise handelt es sich bei solch einem Problem um eines, das existenzieller kaum sein könnte: die irre steigenden Mietpreise, gepaart mit einer anwachsenden Nachfrage sowie knapper werdendem Wohnraum. Darüber redet kaum jemand.

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Infografik: Wo ist Wohnen am günstigsten und am teuersten? | Statista
Infografik: Wo ist Wohnen am günstigsten und am teuersten? | Statista

Der Fluch der Suche

Dabei sind die Zahlen alarmierend. "Die deutsche Wohnkrise spitzt sich zu. Der Run auf Mietwohnungen im Bestand nimmt weiter zu und spiegelt eindrücklich den großen Mangel an erschwinglichen Wohnungen – besonders in den Metropolen", zitiert die "Wirtschaftswoche" Gesa Crockford, Geschäftsführerin vom Immobilienportal "ImmoScout24". In Köln und München hätten die Mietanfragen für bestehende Wohnungen gegenüber dem zweiten Quartal um jeweils 15 Prozent zugenommen, in Düsseldorf um zwölf Prozent. Das hat Folgen für die Mietpreise. Wer jetzt Wohnraum suchen muss, hat deutschlandweit 5,1 Prozent mehr als im Vorjahr einzuplanen, beim Neubau 6,5 Prozent. In einzelnen Städten ist es sehr viel mehr. In Berlin zum Beispiel werden laut "Wirtschaftswoche" Bestandswohnungen für 12,6 Prozent mehr als ein Jahr zuvor angeboten, Neubauten sogar für 19,1 Prozent.

Vorbei die Zeiten, in denen die Faustformel galt, nicht mehr als 30 Prozent des Einkommens fürs Wohnen auszugeben. Das bedeutet, dass Viele in Deutschland erstmal den Kopf einziehen: Sie geben sich mit dem Wohnraum zufrieden, den sie gerade haben und der kraft alten Mietvertrags noch erschwinglich ist – obwohl ein, zwei Kinder dazugekommen sind und man innerhalb der eigenen Wände nach oben baut.

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Infografik: Ob alt oder jung: Deutschland wohnt primär zur Miete | Statista
Infografik: Ob alt oder jung: Deutschland wohnt primär zur Miete | Statista

Es hat aber auch Konsequenzen für uns alle als Steuerzahler. Wenn jemand Bürgergeld bezieht, übernimmt der Staat die Wohnkosten. Und die sind im ersten Halbjahr 2023 um 17 Prozent gestiegen, wie die Gewerkschaft IG Bau ermittelte. "Eine Viertelmilliarde Euro pro Monat mehr als noch vor einem Jahr – das ist Geld, das Bund und Kommunen über die Job-Center für die Kosten der Unterkunft vor allem deswegen zusätzlich ausgeben müssen, weil die Mieten rasant nach oben gegangen sind", zitiert der "Merkur" den Bundesvorsitzenden der IG BAU, Robert Feiger. "Die gestiegenen Mietpreise sind eine enorme Mehrbelastung für den Steuerzahler. Der Staat zahlt die Mieten-Explosion kräftig mit."

Und nicht jeder Bürger wird mitgenommen. Finanzielle Probleme sind nur das eine – was, wenn noch andere hinzukommen?

Die Spirale nach unten

456.560 Menschen in Deutschland sind derzeit nach Angaben der Diakonie wohnungslos. "372.000 Menschen von ihnen lebten zum Stichtag 31. Januar 2023 in Einrichtungen der Kommunen oder der freien Wohlfahrtspflege. Damit waren es mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr." Hinzu kämen laut dem letztjährigen Wohnungslosenbericht schätzungsweise 84.500 Menschen, die bei Freunden oder Bekannten unterkommen oder die gar keine Unterkunft haben. "Die Dunkelziffer tatsächlich wohnungsloser Menschen dürfte jedoch noch um einiges höher liegen."

Kritische Lebensereignisse können dazu führen. Es kann mit dem Verlust des Arbeitsplatzes beginnen, andere Krisen gesellen sich hinzu. Vereine, die sich für Wohnungs- und Obdachlose engagieren, berichten darüber, dass bei ihren Bemühungen ein Riesenproblem immer dazwischen grätscht: der knappe Wohnraum in Deutschland.

Es müsste mehr gebaut werden, aber dies ist derzeit teurer denn je. Die Politik könnte aber die Vorgänge entbürokratisieren. Und sie könnte den Spekulationen den Kampf ansagen. All diese Preissteigerungen bei den Mieten sind nicht vernünftig begründet, sondern nur Ausdruck von Gier auf dem Markt. Daher müssen effektive Mietbremsen her, kombiniert mit Anreizen für Investoren, dennoch in Neubauprojekte einzusteigen. Und es ist vor allem immer mehr Sache des Staates, selbst für Wohnraum zu sorgen; die Privatisierungsorgien der vergangenen Jahrzehnte sind nichts als ein Fehler gewesen.

Darüber hört man aber wenig. Warum nehmen wir das hin? Ist es komplizierter, als die Angst vor Migration oder Wärmepumpen zu schüren? Dieses wahrhafte Problem gehört mehr angegangen, dann ginge es Vielen in Deutschland existenziell besser.