„Er pokert und will uns einschüchtern“ - Neue Atom-Eskalation? Warum Putin plötzlich über westliche „Mini-Nukes“ redet

Militärparade zum Tag des Sieges in Russland<span class="copyright">Alexander Zemlianichenko/AP/dpa</span>
Militärparade zum Tag des Sieges in RusslandAlexander Zemlianichenko/AP/dpa

Wladimir Putin will die Atomdoktrin seines Landes ändern. Dafür wird ein altes Narrativ geschürt. Experten ordnen ein, warum Putin jetzt damit kommt und was das für den Krieg bedeutet.

Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen gehören mittlerweile zum Standardrepertoire von Putins Propagandisten. Regelmäßig wird im russischen Staatsfernsehen über die Vernichtung westlicher Städte gesprochen. Im Zusammenhang mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine droht der russische Präsident immer wieder selbst mit dem Einsatz seines Atomwaffenarsenals .

Die jüngste Warnung sprach der Kremlchef am Donnerstag in Hanoi zum Abschluss seines Vietnam-Besuchs aus. Putin kündigte eine mögliche Änderung der russischen Nukleardoktrin an. Er begründete dies mit der Entwicklung sogenannter „Mini-Nukes“ (kleine Atombomben) im Westen und einer angeblich gesunkenen Hemmschwelle westlicher Staaten, Atomwaffen einzusetzen.

„Speziell werden atomare Bomben mit geringer Sprengkraft entwickelt“, sagte Putin. Westliche Experten sähen in der Nutzung solch sogenannter Mini-Nukes nichts Schlimmes. Das habe Russland erkannt. „Damit hängt auch meine Erklärung darüber zusammen, dass wir über mögliche Veränderungen in unserer Strategie nachdenken.“

Putin will Atomdoktrin verschärfen: Nur Drohgebärden?

Die bisher gültige russische Atomdoktrin beschränkt den Einsatz der eigenen Atomwaffen auf zwei Fälle: Moskau darf seine Nuklearwaffen nur im Falle eines nuklearen Angriffs auf Russland einsetzen oder wenn ein Angriff mit konventionellen Waffen die Existenz des Landes bedroht.

Russland-Experte und Politikwissenschaftler Gerhard Mangott hält eine Präzisierung für den Ersteinsatz von Nuklearwaffen in einem konventionellen Krieg für denkbar. „Die bislang dafür vorgesehene ´Gefährdung der staatlichen Existenz Russlands´ könnte präzisiert und verschärft werden“, sagt er gegenüber FOCUS online.

Mangott hält es aber ebenso für möglich, dass die Ankündigung „nur eine Drohkulisse für die westlichen Staaten aufbauen soll, eine weitere rote Linie gezogen werden soll, um das militärische Engagement westlicher Staaten im Krieg in der Ukraine zu begrenzen“.

Mini-Nukes seit bereits 2018 im US-Inventar

Die Mini-Nukes, auf die sich Putin nun bezieht, „halten die USA vermutlich schon seit 2018 in ihrem Inventar“, sagt Militärexperte Ralph Thiele gegenüber FOCUS online. „Mini-Nukes sind taktische Atomwaffen mit einer geringeren Sprengkraft von fünf Kilotonnen TNT. Sie sollen der Abschreckung dienen, aber auch flexible Angriffs- und Reaktionsmöglichkeiten eröffnen, z.B. als Bunkerbrecher eingesetzt werden können - und dabei unterhalb der Schwelle zur Auslösung eines Atomkrieges bleiben“, erklärt der Vorsitzende der Politisch-Militärischen Gesellschaft e.V. die Details dieser Waffengattung.

Im „US Nuclear Posture Review“ von 2018 und in der Nukleardoktrin des Vereinigten Generalstabs von 2019 war erklärt worden, dass taktische Nuklearwaffen die Abschreckung auch gegen nicht-nukleare „strategische“ Angriffe auf die USA und ihre Partner und Verbündeten stärken sollen, so Thiele weiter.

Das sei Teil einer gefährlichen Strategie, bei der Eskalation zur Deeskalation führen soll. Dahinter stecke auch der Gedanke, sich durch Drohungen oder sogar dem Einsatz solcher Waffen militärische Überlegenheit sichern zu können. „Putin könnte diesen Ansatz durch die Änderung seiner Atomdoktrin übernehmen“, erklärt der Experte.

„Putin pokert und will uns einschüchtern - na klar!“

Mit der Ankündigung, die russische Nukleardoktrin zu verschärfen, konkretisierten und erweiterten sich die Möglichkeiten eines russischen Ersteinsatzes von kleinen Nuklearwaffen, so Thiele. „Neben den möglichen Einsatz von Atomwaffen für einen elektromagnetischen Schlag in der Ukraine tritt nun der mögliche Einsatz von Mini-Nukes.“

Einen solchen Einsatz schließlich auslösen könnte aus Sicht des Militärexperten ein vernichtender Schlag gegen Russland. „Die zunehmende westliche Unterstützung für ukrainische Schläge gegen das russische Mutterland wird unter diesem Aspekt mit Argwohn beobachtet“, so Thiele. „Putin pokert und will uns einschüchtern - na klar! Aber die Pokerspieler im Westen, die diese nuklearen Optionen verspotten, erhöhen den Einsatz.“

Der Zeitpunkt für Russland ist günstig

Russland hat derzeit den Vorsitz der an Zahl und Bedeutung rasch wachsenden BRICS-Staaten inne. „Für Putin ist es daher ein fruchtbarer Zeitpunkt, um sein Land zu positionieren“, sagt Thiele. Putin arbeite an der Solidarität der nicht-westlichen Welt, die im westlichen Einsatz für die Ukraine auch einen verzweifelten Versuch des Westens sehe, seine schwindende Dominanz über Macht und Wohlstand in der Welt zu sichern.

Putins Besuche in Nordkorea und Vietnam unterstreichen diesen Plan. Die US-Regierung zum Beispiel blickt bereits mit Sorge auf die russische Drohung, als Antwort auf Waffenlieferungen an die Ukraine russische Waffen an Pjöngjang zu liefern. Das würde die koreanische Halbinsel destabilisieren“, sagte der Sprecher des US-Außenministeriums, Matthew Miller.

Putin diene das Narrativ „der Westen gegen Russland“, jene Solidarität der nicht-westlichen Welt zu erreichen. „Leider hat der US-Verteidigungsminister - wie auch die deutsche Außenministerin in ihrer unglücklichen Äußerung zum Kampf gegen Russland - dieses Narrativ verstärkt, als er kurz nach seinem ersten Besuch in Kiew 2022 in einem Interview sinngemäß sagte: 'Wir müssen Russland so schwächen, dass es nie wieder seine Nachbarn überfallen kann'“, resümiert Thiele.

Mangott betont, dass dieses Narrativ seit dem Sommer 2022 von der russischen Führung geschürt wird. „Der Westen führt Krieg gegen Russland mit dem Ziel, den russischen Staat zu zerschlagen und zu zerlegen.“ Diese Erzählung sei gegenüber der eigenen Bevölkerung wirksam, aber auch wieder eine implizite nukleare Drohung, so der Russland-Experte. Solche Aussagen sollen der russischen Bevölkerung deutlich machen, dass sie sich in einem existenziellen Kampf befindet und der Krieg deshalb unbedingt unterstützt werden muss.