Exklusiv: Der deutsche Trainer, der Belgien entzückt

Exklusiv: Der deutsche Trainer, der Belgien entzückt
Exklusiv: Der deutsche Trainer, der Belgien entzückt

Alexander Blessin hatte keine große Karriere als Fußballprofi. Er absolvierte lediglich sieben Bundesliga-Spiele. Als Trainer läuft es wesentlich besser für ihn. Dabei konnte er von Ralf Rangnick bei RB Leipzig als seinem Mentor profitieren: Seine Karriere als Fußballlehrer begann Blessin 2012 als U17-Coach bei den Sachsen.

Seit diesem Sommer trainiert er den belgischen Erstligisten Royale Union Saint-Gilloise, der aktuell den ersten Platz in der Tabelle belegt. Am Donnerstag empfängt Blessins Team in der Europa League den FC Liverpool (ab 18.45 Uhr im LIVETICKER).

SPORT1 sprach mit dem 50-Jährigen - über seine Trainerlaufbahn, DFB-Coach Julian Nagelsmann, Reds-Trainer Jürgen Klopp - und Stuttgarts Stürmer Deniz Undav, der vor zwei Jahren noch für Saint-Gilloise auf Torejagd gegangen war.

Saint-Gilloise wie Union Berlin? „Der Vergleich trifft es ganz gut“

SPORT1: Herr Blessin, wie lange haben Sie gebraucht, um Royale Union Saint-Gilloise richtig auszusprechen?

Alexander Blessin: Das ist ein wundervoller Name. Er hört sich überragend an. Ich war immer viel mit Franzosen zusammen und es ging dann relativ schnell. Anfangs bin ich noch verbessert worden, aber dann hatte ich es drauf.

SPORT1: Erzählen Sie mal, was macht den Klub aus?

Blessin: Es ist so ein toller und familiärer Verein mit dem alten Stadion und den Fans. Ich habe noch nie Anhänger gesehen, die ihren Klub so unterstützen. Man muss einfach mal dagewesen sein. Es ist ein altes, baufälliges Stadion, das es so in der Bundesliga nie geben würde. Die Europa-League-Spiele tragen wir auch in Anderlecht aus. Aber unser Stadion hat Charme. Man riecht überall die Stadionwurst. Die ganze Straße vor der Haupttribüne wird immer gesperrt und dann sind alle Kneipen offen. Das ist wie in England. Das ist eine geile Atmosphäre.

SPORT1: Kann man den Verein mit Union Berlin vergleichen?

Blessin: Ja. Absolut. Der Vergleich trifft es ganz gut.

SPORT1: Sie stehen mit Royale Union Saint-Gilloise in Belgien auf Platz eins. Was zeichnet Sie aus?

Blessin: Prinzipiell sollte so eine Frage von Dritten beantwortet werden. Über mich selbst würde ich allerdings sagen, dass ich eher der kommunikative, empathische Typ bin, der klare Linien vorgibt. Die Jungs wissen, woran sie bei mir sind. Als Trainer darfst du nicht nachlassen, ständig mit ihnen im Austausch sein. Die Jungs aus der Startelf sind immer glücklich, aber es geht darum jeden zu erreichen.

SPORT1: Es gibt ja auch verschiedene Nationalitäten.

Blessin: Ganz genau. Und jeder reagiert anders und braucht eine andere Ansprache. Meine Spieler bekommen immer eine ehrliche Meinung von mir. Wir sind ein eingeschworener Haufen, obwohl wir acht Stammspieler verloren haben.

Blessin: „So jemanden wie Undav findest du selten“

SPORT1: Einer davon war Victor Boniface, der jetzt mit Bayer Leverkusen die Bundesliga rockt.

Blessin: Absolut. Wir haben unter anderem mit ihm, Teddy Teuma und Simon Adingra richtig Qualität verloren. Wir hatten einen richtigen Aderlass. Uns hatte keiner auf dem Schirm - und jetzt sind wir Erster! Das macht mich schon stolz. Mit Spielern wie Undav (spielte von 2020 bis 2022 bei Royal Union Saint-Gilloise, d. Red.) oder Boniface hatten sich wenige beschäftigt. Jetzt zeigen die beiden ihre Klasse.

SPORT1: Was sagen Sie zur Leistungsexplosion von Deniz Undav beim VfB Stuttgart?

Blessin: Das ist großartig. Es freut mich extrem für den Jungen. Er ist einfach ein Straßenkicker. So jemanden wie Undav findest du selten. Er hat das richtige Näschen vorne in der Box, kann das Spiel sehen und erkennt die Räume. Er ist zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Man kann mit ihm zocken und das ist cool. Und Undav nimmt sich selber nicht zu ernst, er ist ein aufgeweckter, lustiger Junge, der sagt, was er denkt. Dass er auch ein Thema für die Nationalmannschaft ist, finde ich gut. Denn so viele tolle Stürmer hat der Bundestrainer nicht.

SPORT1: Kommt das Thema Nationalelf für Undav nicht zu früh? Heutzutage wird man schon nach drei, vier guten Spielen nominiert.

Blessin: Das stimmt. Früher musste an über mehrere Monate Top-Leistungen bringen. Junge Spieler mussten erstmal Schuhe putzen. Mich hat Thomas Berthold früher in der Kabine von der Liege geschmissen und sagte: ‚Wer von uns beiden ist Weltmeister?‘ Früher gab es eine klare Hierarchie - sicher auch in der Nationalmannschaft. Da musste man über einen längeren Zeitraum Leistung bringen. Das Fußballgeschäft ist so schnelllebig geworden. Natürlich sollte ein Spieler über einen längeren Zeitraum seine Qualität zeigen, bevor er nominiert wird. Aber aktuell haben wir keine richtig guten Stürmer, das ist leider Fakt. Und wenn du einen hast, der einen Lauf hat, dann hat er seine Berechtigung. Er hat ja schon bei Union und Brighton seine Leistung gebracht. Für Nagelsmann wird das Haupt-Argument sicher sein, dass ein Spieler über mehrere Monate starke Leistungen gezeigt hat, bevor er zur Nationalelf darf. Aber Undav zeigt seine Klasse nicht erst jetzt beim VfB.

SPORT1: Könnte Undav Nagelsmann helfen?

Blessin: Auf jeden Fall. Undav hat einfach die Qualität. Er muss ja bei der EM nicht gleich von Anfang an spielen. Nagelsmann sollte Undav mit dazu nehmen, um eine gewisse Flexibilität innerhalb der Mannschaft zu haben. Undav ist nicht unbedingt der Schnellste, aber er weiß, wo das Tor steht und wie er sich vorne bewegen muss. Und er arbeitet nicht so schlecht gegen den Ball. Das Spiel gegen den Ball ist wichtig, das fehlt der Nationalmannschaft. Da will ich Julian nicht zu nahe treten.

„Ralf Ragnick ist völlig verrückt“

SPORT1: Wer ist Ihr Trainervorbild?

Blessin: Ich habe mir bei dem oder dem Trainer etwas abgeschaut. Sei es bei Christian Streich oder bei Jürgen Klopp. Weil sie in bestimmten Dingen einfach richtig gut sind. Aber das Wichtigste als Trainer ist es doch authentisch zu sein. Wenn du nicht authentisch bist, wirst du nie erfolgreich sein. Ralf Rangnick ist völlig verrückt - im positiven Sinn. Dies haben wenige. Wenn du aber jetzt einen Rangnick nachahmen oder Kloppo imitieren musst, dann wirst du scheitern. Ich habe mir bei den genannten Trainern etwas abgeschaut, aber meine eigene Linie verfolgt. Ich habe meine eigene Philosophie.

SPORT1: Wie ist die?

Blessin: Ich komme aus dem RB-Imperium und habe acht Jahre dort gearbeitet. Für mich war es nach der aktiven Laufbahn, die jetzt sicher nicht glorreich, aber auch nicht so schlecht war, wichtig, dass ich von der Pike auf den Trainerjob lernen wollte. Ich wollte nicht bloß irgendwo reingeworfen werden. Für mich war es überragend, das Angebot von Ralf aus Leipzig zu bekommen. Dort habe ich dann meine ersten Trainerjahre erlebt. Ich habe schon als Profi die C-, B- und A-Lizenz gemacht. Nicht jeder gute Fußballer ist ein guter Trainer. Und jeder nicht so gute Spieler kann aber ein erfolgreicher Trainer werden. Ich habe mir die Zeit genommen, das zahlt sich jetzt aus. Ich wollte aber nicht ewig Jugendtrainer bleiben und die Jahre im Ausland haben mir auch gutgetan.

SPORT1: Sie haben in Leipzig auch mit Julian Nagelsmann zusammengearbeitet ...

Blessin: Richtig. Das war eine wertvolle Zeit. Er war Cheftrainer der ersten Mannschaft und ich war U19-Trainer. Aber ich wollte dann Cheftrainer werden. Leider kam damals Corona dazwischen. Da haben viele Vereine erstmal abgewartet. Doch dann kam das Angebot von Ostende und das habe ich dann gemacht.

SPORT1: Auch Tuchel und Nagelsmann hatten keine große Spielerkarrieren, sind aber jetzt erfolgreiche Trainer ...

Blessin: Es ist einzig und allein wichtig, was du aus deinen Erfahrungen machst. Mir hat es geholfen, dass ich als Spieler bestimmte Situationen erlebt habe. In der 2. oder 3. Liga ist schon auch etwas Druck auf dem Kessel. Die Ellenbogen-Mentalität zu erleben, war schon wichtig für mich. Tuchel hat auch in der 3. Liga gespielt, und Julian hat dort durch seine Verletzung wenig mitbekommen. Du musst diese Erfahrungen als Trainer auch richtig einordnen und anwenden.

Rückendeckung für Nagelsmann: „Julian ist jetzt der Richtige“

SPORT1: Sie kennen Nagelsmann. Zuletzt kam Kritik auf, er würde die Spieler überfordern. Wie sehen Sie es?

Blessin: Wir haben zusammen den Fußballlehrer gemacht. Nagelsmann überfordert die Spieler, aber das machen Tuchel, Guardiola und Kloppo auch. Jeder schießt sich gerade darauf ein, es würde an deutscher Mentalität fehlen. Doch das wäre zu einfach. Die Nationalmannschaft braucht eine gewisse Sicherheit und die Spieler müssen sich einspielen. Mehr möchte ich dazu gar nicht sagen. Es gibt die Dauerkritiker, die dauernd draufhauen und dafür bezahlt werden. Wir haben ein gutes Team und Julian wird eine hungrige Elf auf den Platz bringen mit einem guten Mix aus spielerischer Qualität und Mentalität. Julian ist jetzt der Richtige, nach der EM kann man sich erneut zusammensetzen.

SPORT1: In der Europa League geht es zum Abschluss der Gruppenphase zu Hause gegen den FC Liverpool. Wie gehen Sie es an?

Blessin: Wir brauchen gegen die Reds einen perfekten Tag und müssen die Gunst der Stunde nutzen. Die Qualität bei Kloppos Team wird sehr hoch sein. Wir wollen etwas reißen und die Chance nutzen, in der Europa League weiterzukommen.

Jürgen Klopp „wäre als Bayern-Trainer überragend“

SPORT1: Wie ist Ihr Verhältnis zu Liverpool-Coach Klopp?

Blessin: Wir kennen uns und haben einst gegeneinander gespielt. Ich schätze ihn sehr, weil er ein cooler Typ ist, mit dem man sich gut auch über fußballunspezifische Dinge unterhalten kann. Wir haben im Hinspiel vor und nach dem Spiel nett geredet. Auch über belanglose Dinge. Kloppo war komplett geerdet.

SPORT1: Wo kann sein Weg hinführen?

Blessin: Das ist eine gute Frage. Eine Rückkehr zum BVB schließe ich aus. Nach so vielen erfolgreichen Jahren bei den Reds schließe ich ebenfalls aus, dass Kloppo nochmal etwas in England machen wird. Vielleicht weiß er es schon. Er wäre als Bayern-Trainer, Nationaltrainer und auch als Real-Coach überragend. Oder er geht in Frührente. Das hätte er sich dann auch verdient.

SPORT1: Wann sieht man Sie in der Bundesliga?

Blessin: Ich habe keinen Masterplan, schaue von Saison zu Saison. Ich bin jetzt das vierte Jahr im Ausland und habe genug Erfahrung sammeln können. Natürlich wäre die Bundesliga ein Traum, aber England wäre auch sehr spannend. Ich fühle mich pudelwohl in Belgien. Die belgische Liga findet auch bei den Scouts immer mehr mehr Interesse. Ich genieße meine aktuelle Situation.