Ein Tag mit türkischen EM-Fans - „Dortmund? Nein, nein, das ist jetzt Istanbul“, sagt Selim und schreit los

Ein türkischer Fan beim EM-Spiel gegen Portugal in Dortmund<span class="copyright">FOCUS online</span>
Ein türkischer Fan beim EM-Spiel gegen Portugal in DortmundFOCUS online

Für Zehntausende Türken ist es ein Nachmittag der großen Emotionen. So viel Stolz, Leidenschaft, später tiefe Traurigkeit. Beim EM-Spiel in Dortmund gegen Portugal feiern sie sich, ihr Land, ihre Familien, ihre Helden. Unser Reporter war dabei.

Noch haben Melissa, Duygu, Kübra und Melda ein bisschen Hoffnung, aber ich sehe ihnen an: sie wird immer geringer. Wir unterhalten uns ein paar Minuten am Dortmunder Stadion vor dem EM-Spiel der Türkei gegen Portugal, und immer wieder fragt mich eine von ihnen: "Haben Sie ein Ticket?", 250, vielleicht 300, vielleicht sogar noch ein paar Euro mehr, sie würden ja ganz viel für ein Ticket bezahlen, aber das wird nicht reichen, dafür kriegen sie keins, sie ahnen das schon.

Die vier jungen Türkinnen sind heute extra aus München hierher gekommen, nach Dortmund, wo an diesem EM-Samstag alles in den türkischen Farben leuchtet. "Wir mussten einfach dabei sein", sagt Kübra. „Hier ist ja wirklich alles rot, das ist so unfassbar“, findet Melissa, natürlich im Türkei-Shirt.

Melda, Kübra, Duygu und Melissa: Sie versuchten noch vor Ort, Tickets zu kaufen<span class="copyright">FOCUS online</span>
Melda, Kübra, Duygu und Melissa: Sie versuchten noch vor Ort, Tickets zu kaufenFOCUS online

 

Zwei Spiele haben die Türken bei dieser EM in Dortmund, mitten in NRW also, wo mehr als eine halbe Million türkische Staatsangehörige leben.

So wie Murat mit seinen Söhnen Melih und Ömer. Sie kommen aus Bochum, da lebt Murat seit den Siebzigern, damals zog er aus Ankara nach Deutschland. „Es hat sich viel verändert in den Jahren“, erzählt er.

Als ich wissen will, wie er das meint, da sagt er: „Es war früher einfacher. Jetzt bin ich hier der Türke und in der Türkei der Deutsche. Beides kein richtiges zu Hause.“

Murat, Ömer, Melih: "Fußball ist Freude für uns"<span class="copyright">FOCUS online</span>
Murat, Ömer, Melih: "Fußball ist Freude für uns"FOCUS online

 

Er klingt ein bisschen traurig, als er das sagt, aber traurig will hier heute niemand sein, also reden sie wieder über Fußball, „das ist Freude für uns“, da lacht er wieder. Und da stimmt ihm Melih zu: „Wir lieben das einfach, wir sind keine Draufgänger, auch wenn man das von uns denkt. Es ist einfach Leidenschaft. Wir sind einfach mit dem Herz dabei.“

Ömer, weißes Türkei-Shirt, Rückennummer 9, nickt, aus ihm sprudeln die vielen Worte nur so raus. "Wie eine Heim-EM" komme ihm das hier alles vor. Er habe sich schon gedacht, dass es groß wird, erzählt er, aber jetzt hier zu sein, das sei "noch viel krasser", einfach "total besonders".

„Ihr Deutschen, ihr kennt das Gefühl gar nicht“

Ein paar Minuten später treffe ich Ugur, er sitzt neben mir im Stadion, er ist für eine große türkische Zeitung bei dieser EM in Deutschland und jetzt hofft er, ganz lange zu bleiben. „Unsere Leute haben es verdient", erzählt er mir. "Sie haben auf so was lange gewartet. Das sieht man ja. Sie kommen aus ganz Europa nach Deutschland. Sie wollen alle dabei sein.“

Selin und Mustafa kamen von der holländischen Grenze nach Dortmund, um beim Türkei-Spiel dabei zu sein<span class="copyright">FOCUS online</span>
Selin und Mustafa kamen von der holländischen Grenze nach Dortmund, um beim Türkei-Spiel dabei zu seinFOCUS online

 

So wie Mert und seine Freunde aus Bonn, alle in Mondsternflagge gehüllt, sie trinken ein Bier nach dem anderen, rauchen die ein oder andere Kippe. Im Stadion ist das natürlich verboten, aber das interessiert jetzt keinen.

„Ihr Deutschen“, sagt er mir, „ihr kennt dieses Gefühl doch gar nicht. Wann wart ihr denn mal nicht dabei bei so einem Turnier", fragt er mich und ich überlege kurz. "Gab es nicht", sage ich und da tippt er freundlich seinen Finger auf meine Brust und meint: "Siehst du. Ihr seid beim Fußball immer dabei, immer. EM, WM. Aber wir nicht. Jetzt weißt du, wieso hier so viele von uns sind und wieso wir das so genießen.“

Als die Enttäuschung immer größer wird, rufen alle: „Hurensohn, Hurensohn“

Mit dem Genießen ist das an diesem Samstagabend aber so eine Sache. Die Türken machen zwar einen unvorstellbaren Lärm im Dortmunder Stadion, vor allem, wenn die anderen den Ball haben, dann pfeifen sie, sie pfeifen wirklich alle, doch das Spiel gegen Portugal läuft so gar nicht wie erhofft.

Früh liegen die Türken zurück, 0:1, ärgerlich. Beim 0:2 machen sie ein fürchterlich blödes Eigentor. Und mit dem 0:3 ein paar Minuten nach der Halbzeit ist das Spiel dann entschieden .

Da muss erstmal der Frust raus, „Hurensohn, Hurensohn“, schreien auf einmal Zigtausende nach einem ganz falschen Pfiff des Schiedsrichters. Habe ich das richtig verstanden, frage ich Mert, der eine Reihe vor mir sitzt und vor Ärger bebt. „Ja Mann, scheiße, das Wort kennen doch alle, hier sprechen doch eh alle Deutsch.“

Türkische Fans: Aus Kassel nach Dortmund gereist<span class="copyright">FOCUS online</span>
Türkische Fans: Aus Kassel nach Dortmund gereistFOCUS online

 

Das gilt auch für die munteren Jungs aus Kassel, mit denen ich kurz vor dem Stadion ins Gespräch komme. Sie reden ganz viel von Arda Güler und dass wir ja alle sehen werden, wie gut der junge türkische EM-Star ist. Und sie erzählen von 400 Euro, die die meisten von ihnen vor zwei Wochen für ein Ticket bezahlt haben.

Aber jetzt sind sie froh, das Geld bezahlt zu haben. Denn jetzt stehen sie hier und können die Massen an Türken an diesem Nachmittag kaum glauben. "Das ist hier nicht mehr Dortmund", sagt mir einer von ihnen, ich glaube er hieß Selim, „nein, nein, das ist jetzt Istanbul.“

Ein Nachmittag der großen Emotionen: Stolz, Begeisterung, Traurigkeit

Sein Satz gefällt ihm so gut, dass er ihn gleich noch ein paar Mal sagt. Und dazwischen ruft er immer wieder: „Türkiye, Türkiye“. Immer wieder „Türkiye, Türkiye“ und alle machen mit.

Es ist ein Nachmittag der großen Emotionen bei den Türken, am Ende ist da zwar diese tiefe Traurigkeit, aber vorher: unendlicher Stolz, so viel Begeisterung, so viel Leidenschaft.

Erona und Ismail: Aus der Schweiz fürs Türkei-Spiel angereist<span class="copyright">FOCUS online</span>
Erona und Ismail: Aus der Schweiz fürs Türkei-Spiel angereistFOCUS online

 

All das empfinden auch Ismail und Erona, die eigentlich in Zürich leben, jetzt aber mehr als acht Stunden hergefahren sind. „Wir wären auch noch viel weiter gefahren“, sagt Ismail, „zehn Stunden, zwanzig? Egal“, sagt er, als wir uns kurz vor dem Stadion unterhalten.

Es sind vielleicht drei, vier Minuten, die wir reden, aber allein da sagt der 26-Jährige ständig was von diesem „besonderen Feeling“, das er und seine Landsleute gerade spüren. Und deswegen hat er auch nein gesagt, als er sein Ticket verkaufen konnte. "Mir wurden 700 Euro angeboten", erzählt er. "Und? Hast du drüber nachgedacht?", will ich von ihm wissen. Da lacht er nur. "Keine Sekunde."