TV-Kolumne - Wie uns Narrative zu Narren machen

In this pool photograph distributed by the Russian state agency Sputnik, Russia’s President Vladimir Putin speaks with Russian media before his departure at the Noi Bai International Airport in Hanoi on June 21, 2024.<span class="copyright">Foto: AFP/-</span>
In this pool photograph distributed by the Russian state agency Sputnik, Russia’s President Vladimir Putin speaks with Russian media before his departure at the Noi Bai International Airport in Hanoi on June 21, 2024.Foto: AFP/-

Wladimir Putin führt einen Krieg in der Ukraine. Er führt auch einen Glaubenskrieg. Parteien um Sahra Wagenknecht und Björn Höcke spielen da gerne mit. Im Krieg, bestätigt sich, ist die Wahrheit das erste Opfer. Und wer sie retten will, tut sich wirklich schwer.

Klar, der Krieg in der Ukraine ist ein Kampf gegen Neonazis, ist doch klar. Putin ist ein Freiheitskämpfer, was sonst. Und in Deutschland darf man den Mund nicht mehr aufmachen. Nie war es so leicht wie heute, Dinge zu wissen. Und doch glaubt der Mensch, was er glauben will. Und was man ihm vorsetzt. Man setzt ihm viel vor in Zeiten wie diesen. „Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer“, ist ein Satz, der dem griechischen Dichter Aischylos zugeschrieben wird, wirklich populär ist er seit dem Ersten Weltkrieg geworden. Auch der Ukraine-Krieg macht die Wahrheit zum Opfer. „Mit Fakten gegen Putins Propaganda“ heißt die Arte-Reportage. Sie berichtet über Menschen, die Wahrheit am Leben halten wollen. Es ist ein Kampf für das Wissen und gegen das Glaubenwollen: Fakt gegen Fake.

Klar, Neonazis haben den Ukraine-Krieg begonnen…

Thema Fake: Wir sehen einen Putin, wie er dreist in eine US-Fernsehkamera lügt: „All das führte zu der Entscheidung, den von Neonazis begonnen Krieg zu beenden.“ Und an die US-Wähler appelliert er: „Habt ihr nichts Besseres zu tun, als die Ukraine zu unterstützen?“ Damit gewinnt er auch in Deutschland Sympathien – bei den ganz Linken um Sahra Wagenknecht, genauso bei den ganz Rechten um Björn Höcke. Klar, da liebt man die einfachen Lösungen. Frieden ist schöner als Krieg. Geld fürs eigene Wohl ist besser als Geld für Munition. Da lässt sich Friedensliebe gut auf Plakate schreiben. Liest sich ja auch schöner als Egoismus.

Der Kampf gegen das große Glaubenwollen

Thema Fakt? Da gibt es den Datenjournalisten in der Ukraine, der ein neues Massengrab gefunden hat: 300 Meter lang mit Platz für 2000, 3000 Leichen. Das hilft, Opferzahlen abzuschätzen. Da gibt es Auslandsrussen wie Anton Trigub. Der lebt in Berlin, recherchiert für OstWest-TV und arbeitet für ein russischsprachiges Publikum. Er verspricht faktenbasierten Journalismus. „Wahrheit muss auf Fakten basieren“, ist sein Glaubenssatz, „nicht auf Vermutungen.“ Es ist ein mühsamer Kampf gegen das ganz große Glaubenwollen.

Die kleinen Kratzer, die das große Narrativ zerstören

Auf der einen Seite ist das, was man neudeutsch „Narrativ“ nennt. Das Wort kommt aus dem Lateinischen. Es heißt: erzählen. Tatsächlich werden mit erzählten Wirklichkeiten Narren gemacht. Nehmen wir das Beispiel der Kinder, die aus der Ukraine nach Russland gebracht wurden. Die Ukraine sagt: entführt. Russland sagt: gerettet. Da gibt es den 17-Jährigen aus Mariupol. Das russische Fernsehen beschreibt die Geschichte eines Jungen, dem die Mutter an Krebs gestorben ist, der seinen Vater nie wirklich gekannt hat. Und kaum ist Krieg, setzen ihn die Pflegeeltern vor die Tür: „Geh dahin, wo du herkommst.“ Ihn hat die Kinderrechtsbeauftragte Russlands adoptiert. Sie erzählt ihre Geschichte im russischen Fernsehen mit Tränen in den Augen. Das ist eine schöne, eine große Geschichte für die russische Seele. Die Wahrheit ist sie nicht. Ein Reporter macht sich auf die Suche nach ihr. Und er findet die kleinen Kratzer, mit denen er das große Narrativ zerstört. Die Spurensuche beginnt mit Satellitenaufnahmen: Wie konnte der Junge aus dem Haus geworfen werden, wenn das doch wie so viele andere in Mariupol zerstört worden war? „Seine Pflegeeltern konnten ihn kaum aus einem Haus vertreiben, das zuvor schon von Russen zerstört worden war.“

Warum ist die Bereitschaft so groß, Dinge glaube zu wollen?

Der Zuschauer lernt: Die Lüge ist groß, sie ist eine schöne Geschichte. Die Wahrheit ist klein, sie besteht oft aus lästig kleinen Bausteinen der Banalität. Das macht den Kampf für die Wahrheit so mühsam. Warum es sich lohnt, immer wieder, ihn zu führen? Beispiel München, 16. Februar 2024. 30 Minuten vor der Eröffnung der Sicherheitskonferenz teilen russische Medien mit, dass Alexey Navalny in einer russischen Strafkolonie verstorben sei. In Deutschland erfährt das der russische Journalist Danil Rubanov. Er nimmt den Tod als Auftrag, weiter für die Wahrheit zu kämpfen: „Was würde Nawalny jetzt sagen? Er würde sagen: Warum seid Ihr so traurig – Ihr müsst kämpfen!“. Und sein Kollege Anton Trigub findet das Schlusswort: „Ich denke, es ist Hoffnung. Und ich glaube daran, dass nach der dunkelsten Stunde der Nacht der Sonnenaufgang kommt.“ Nie gab es so viele Möglichkeiten, um zu wissen. Warum ist der Wille so groß, Dinge glauben zu wollen?