Warum der Genozid an den Armeniern einen Schatten bis heute wirft

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Die türkische Regierung macht Druck: Dresdens Sinfoniker bezeichnen den Völkermord an den Armeniern als das, was es ist – so wird sich Präsident Erdogan immer weiter isolieren.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Die türkische Regierung hat eigentlich genug Herausforderungen zu stemmen. Aber Präsident Recep Tayyip Erdogan wirkt wie gedopt: Immer ein Gewicht mehr lässt er sich drauflegen. Und schafft sich Probleme, wo vorher keine waren.

Da gibt es zwei Millionen Geflüchtete in der Türkei, die es zu versorgen gilt. Und Erdogan sorgt sich um seinen Ruf, seine Ehre und darum das Land innerlich zu ruinieren.

Beispiele gibt es noch und nöcher. In den Niederlanden werden dort lebende Türken dazu aufgerufen, Beleidigungen gegen den Präsidenten zu melden; als hätte man nichts Besseres zu tun. In der Türkei werden Journalisten verhaftet, wenn sie ihren Job verrichten. Erdogan ist Sultan. Er will Exempel statuieren, er will die Regeln festsetzen, er will geliebt und gerühmt werden. Und wer ihm den Huldigungskuss verwehrt, gehört bestraft wie ein kleines Kind.

Besonders tragisch für die Türkei ist, dass mit Erdogan sich verschiedene Negativwerte vereinen, die bisher getrennt marschierten. Zum einen wird der konservative Mief nicht nur salonfähig, sondern Standard. Religiöse Regeln vertreiben freies Leben aus dem öffentlichen Raum. Die Natur wird einem Raubtierkapitalismus zum Fraß vorgeworfen, der jeden Neoliberalen erblassen ließe. Und Erdogan führt immer mehr das Erbe der Generäle fort, die in der Republik Türkei einen Spielball ihrer Interessen sahen und daher nur autokratisch dachten. Konservativ, neoliberal und militaristisch-autoritär – dieser Dreierpack ist schwer zu verdauender Tobak.

Dass Erdogan die Regeln seines Sultanspiels auch über die Landesgrenzen hinaus austestet, belegt der jüngste Fall seines Zorns; diesmal traf es die Dresdener Sinfoniker. Mit ihrem Konzertprojekt „Aghet“ aus türkischen, armenischen und deutschen Musikern wollen sie einerseits des Völkermords der Türken an den Armeniern erinnern und andererseits ein Zeichen der Versöhnung setzen. Letzteres will Erdogan wohl nicht verstehen – aber leider steht er da nicht allein.

Der Völkermord an den Armeniern war einer der ersten systematisch angelegten Genozide des 20. Jahrhunderts. Ihm fielen, geplant und verübt von der osmanischen Regierung, hunderttausende Armenier zum Opfer; es ging, um dieses hässliche deutsche Wort zu bemühen, um „Eliminierung“.

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Um zu versöhnen, muss man zur Geschichte stehen. Man muss sich der Vergangenheit stellen. Das tut die Türkei leider bis heute nicht.

Ignoranz ist ein schlechter Gefährte

Das Prinzip ist einfach: Worüber nicht geredet wird, kann nichts existieren. Daher wird der Genozid verschwiegen. Bis heute erliegen die Türken einer kollektiven Gehirnwäsche, die weismachen will: Ja, es habe bedauerliche Ereignisse gegeben, Opfer auf beiden Seiten, es habe sich um Landesverteidigung gehandelt – Gedöns halt.

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Damit hat sich die Türkei ins 21. Jahrhundert gemogelt. Aber der Schwindel bleibt einer. Er wird am Land hängen wie Blei. Eine Versöhnung dagegen wäre so einfach und leicht. Und Erdogan hätte nichts zu verlieren.

Wenn die EU-Kommission also, die das Projekt der Sinfoniker mit 200.000 Euro fördert, diesen Hinweis von ihrer Website entfernt – dann handelt sie falsch. Sie argumentiert mit Bedenken über die Wortwahl – und meint das Wort „Genozid“, das in der Begleitbroschüre zum Projekt auftaucht.

Doch ein Genozid bleibt ein Genozid.

Die EU-Kommission sollte den Namen gefettet und vergrößert auf die Website stellen. Es wäre eine Hilfe für die Türkei.

Bilder: dpa

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