Zahl der Opfer häuslicher Gewalt steigt - die meisten Betroffenen sind Frauen

Die Zahl der Opfer häuslicher Gewalt in Deutschland steigt. Im vergangenen Jahr erfassten die Behörden mehr als 256.000 solcher Fälle. (JOHN MACDOUGALL)
Die Zahl der Opfer häuslicher Gewalt in Deutschland steigt. Im vergangenen Jahr erfassten die Behörden mehr als 256.000 solcher Fälle. (JOHN MACDOUGALL)

Für die Opfer ist es ein Martyrium, für die Familienministerin ein "Skandal", der ihr "ins Mark geht": Immer mehr Menschen in Deutschland erleben häusliche Gewalt, im dritten Jahr in Folge sind die Zahlen gestiegen, wie aus einem am Freitag veröffentlichten Lagebild der Bundesregierung und des Bundeskriminalamt (BKA) hervorgeht. Demnach erfassten die Behörden 2023 mehr als 256.000 Fälle - 6,5 Prozent mehr als 2022. 70 Prozent der Opfer waren weiblich, drei Viertel der Tatverdächtigen männlich.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sprach von einer "Gewaltspirale", die gestoppt werden müsse. Familienministerin Lisa Paus (Grüne) erklärte, die neuen Zahlen zeigten "das erschreckende Ausmaß einer traurigen Realität". Es handle sich um eine große Herausforderung - "insbesondere, weil so viel in den eigenen vier Wänden und unter Ausschluss der Öffentlichkeit passiert". Paus sagte weiter, "Gewalt insbesondere gegen Frauen ist ein alltägliches Phänomen."

Bei knapp zwei Dritteln der Betroffenen (65,5 Prozent) ging die häusliche Gewalt vom Partner oder der Partnerin aus; beim Rest waren es nahe Angehörige wie Eltern oder Kinder, Geschwister oder andere Familienangehörige. Im Bereich der Partnerschaftsgewalt waren 79,2 Prozent der Opfer Frauen. Die Hälfte der Opfer lebte mit dem oder der Tatverdächtigen zusammen. 155 Frauen und 24 Männer wurden im vergangenen Jahr durch ihre Partner oder Ex-Partner getötet.

"Jeden Tag werden im Durchschnitt über 700 Menschen Opfer von häuslicher Gewalt", sagte Innenministerin Faeser. "Hinter jedem dieser Fälle verbirgt sich der Horror, im engsten Umfeld angegriffen worden zu sein - dort wo man sich eigentlich sicher fühlen sollte", sagte Faeser.

Die Zahlen von polizeilich registrierter häuslicher Gewalt steigen der Statistik zufolge nahezu kontinuierlich an - in den letzten fünf Jahren um 19,5 Prozent. Knapp 68 Prozent der Opfer und gut 63 Prozent der Tatverdächtigen sind Deutsche. Von den Täterinnen und Tätern standen 23 Prozent bei der Tat unter Alkoholeinfluss, 55 Prozent waren davor bereits polizeilich in Erscheinung getreten.

Nach wie vor geht das BKA von einer hohen Dunkelziffer aus - "und dennoch registrieren wir im Hellfeld seit Jahren eine steigende Tendenz", sagte BKA-Vizepräsidentin Martina Link. Ob der Anstieg der gemeldeten Taten tatsächlich mehr Fälle bedeutet, oder ob diese nur häufiger zur Anzeige gebracht werden, sei unklar.

Die Innenministerin kündigte an, Schalter für betroffene Frauen in Bundespolizei-Wachen an Bahnhöfen einzurichten. "Zeitnah" soll es dazu Pilotprojekte geben. Die Hemmschwelle, Hilfe zu suchen, solle so gesenkt werden. Zudem müssten Kontaktverbote strikter durchgesetzt und elektronische Fußfesseln bei Tätern häufiger eingesetzt werden.

Familienministerin Paus kündigte ein Gewalthilfegesetz an, das ein "verlässliches und bedarfsgerechtes Hilfesystem bei häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt" schaffe. Bisher mangele es an Plätzen in Frauenhäusern, insbesondere auf dem Land.

Die Grünen sehen durch den erneuten Anstieg der Zahlen "dringenden Handlungsbedarf". "Mit dem Gewalthilfegesetz wollen wir eine bundeseinheitliche Regelung mit einem Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung für alle von Gewalt Betroffenen und ihre Kinder garantieren", erklärten die Abgeordneten Denise Loop und Irene Mihalic. "Dieser Anspruch muss flächendeckend, unabhängig von Wohnort, Einkommen, Beeinträchtigungen oder Aufenthaltsstatus zugänglich sein."

Die frauenpolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, Nicole Bauer, forderte "eine verstärkte Präventions- und Täterarbeit, eine effektivere Koordination der Akteure auf Bundes- und Länderebene, ein Konzept zur möglichen Finanzierung von Frauenhäusern, sowie eine erhöhte Sensibilisierung und Aufklärung durch gezielte Kampagnen". Dazu müsse Paus "ein schlüssiges Konzept vorlegen, welches die Schuldenbremse berücksichtigt."

Die Linken-Bundestagsabgeordnete Gökay Akbulut monierte: "Die Bundesregierung hat zwar in ihrem Koalitionsvertrag Maßnahmen angekündigt", lässt aber die Betroffenen mit deren Umsetzung bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten."

Die deutsche Kinderhilfe betonte, dass in etwa jedem zweiten Fall Kinder die Gewalt eines Elternteils gegen den anderen "mindestens mitbekommen haben". Kinder würden dadurch oft traumatisiert, entwickelten Loyalitätsprobleme und Schuldgefühle. Ein Gewalthilfegesetz sei daher "lange überfällig".

hol/pw