Kommentar: „Gratismentalität“ ist das Schafott der FDP

Auf dem Weg zu einer Pressekonferenz im Berliner Juli: Bundesfinanzminister Christian Lindner (Bild: REUTERS/Michele Tantussi)
Auf dem Weg zu einer Pressekonferenz im Berliner Juli: Bundesfinanzminister Christian Lindner (Bild: REUTERS/Michele Tantussi)

Christian Lindner ist gegen das Neun-Euro-Ticket – er warnt vor einer „Gratismentalität“. Damit betreibt der FDP-Chef Klassenkampf. Nur könnte seine Partei darin untergehen.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Als Schüler gründete Christian Lindner eine PR-Agentur, da ist es kein Wunder, dass er heute Anwärter auf eine besondere Auszeichnung ist: Für die Prägung des Unwortes des Jahres 2022. Denn die von ihm kommunizierte „Gratismentalität“ steht gerade hoch im Kurs.

Der Bundesfinanzminister und FDP-Parteichef stellt sich mit diesem Wort gegen eine Fortführung des Neun-Euro-Tickets. Dafür würden keinerlei Mittel zur Verfügung stehen, sagte er der „Augsburger Allgemeinen“. Und kritisierte dabei eine „Gratismentalität à la bedingungsloses Grundeinkommen“. Weiter: „Jeder Steuerzuschuss für ein nicht die Kosten deckendes Ticket bedeutet Umverteilung.“ Die Menschen auf dem Land, die keinen Bahnhof in der Nähe hätten und auf das Auto angewiesen seien, würden den günstigen Nahverkehr subventionieren. „Das halte ich für nicht fair“, so Lindner.

Der Freidemokrat übt sich also in Gerechtigkeit. Nur kennt er womöglich nur negative Gerechtigkeit, nach dem Motto: Das Leid des Einen muss auch das des anderen sein. Anders ist nicht zu verstehen, warum er die kläglichen Zustände des ÖPNV im ländlichen Raum als Maßstab heranzieht, um bessere Verkehrskonzepte im Städtischen Raum zu torpedieren – als hätten Leute auf dem Dorf davon etwas, wenn denen in der Stadt das Umsteigen auf Bus & Bahn finanziell nicht erleichtert würde.

Und im Wort „Gratismentalität“ verbirgt sich eine ganz spezielle Gerechtigkeit. Eine Gratismentalität mag der Porsche-Chef darin sehen, dass er offensichtlich einen kurzen Draht zu Lindner hat. Eine Gratismentalität liegt auch dem so genannten Dienstwagen-Privileg zugrunde, gegen dessen Wegfall sich Lindner beharrlich stellt: Dieses Privileg besagt, dass private Halter eines Dienstwagens steuerlich ordentlich gepampert werden. Die Anschaffungskosten kann der Arbeitgeber von den Betriebskosten absetzen, Sprit, Verschleiß und Reparatur ebenfalls. Die Konsequenz: Gerade dicke Schlitten, die man allein eher nicht kaufen würde, werden so in die Garage gestellt, also die CO2-Schleudern. Das kostet den Staat Milliarden von Euro. Ein Quatsch, der längst der Vergangenheit angehören sollte.

Mit der Gratismentalität ist das also eine Sache. Man muss kein Superreicher sein, um festzustellen: Mit diesem Privileg habe ich wenig zu tun.

Eine Neiddebatte

Damit schürt Lindner eine Neiddebatte. Denen „da oben“ besorgt die FDP die Privilegien, und denen „da unten“ wird Leistungsverweigerung attestiert, wenn sie wenig für den ÖPNV zahlen wollen. Der Liberale vergisst natürlich, dass es nicht nur soziale, sondern auch ökologische Argumente für einen massiv vergünstigten ÖPNV gibt.

Überhaupt begründet Lindner kärglich. Klar, es gibt auch gute Argumente, die gegen eine Fortführung des Neun-Euro-Tickets sprechen. Da sind einerseits die hohen Kosten in Zeiten eines strapazierten Staatshaushalts. Und zum anderen sind Bahn & Bus in Deutschland chronisch unterfinanziert: Es fehlt an Linien, an Service, an Personal, an Pünktlichkeit. Man könnte darüber nachdenken, erst einmal all dies anzugehen und massiv zu verbessern, bevor die Massen bewusst darauf losgelassen werden.

Es stimmt indes auch, dass der gegenwärtige Zustand des ÖPNV ein Skandal ist, der ohnehin zu beheben ist. Nur muss sichergestellt werden, dass ein dauerhaftes Neun-Euro-Ticket nicht dazu führt, dass weniger Bahnhöfe barrierefrei gestaltet werden, mehr Linien ausfallen und das ganze System noch mehr verrottet. All dies wäre schon machbar. Man muss es nur wollen.

Doch Lindner scheint nur seine Profilierung als Erzengel des Großbürgertums zu interessieren. Kurzfristig wird er damit eine gewisse Stammklientel zufriedenstellen. Aber gesamtgesellschaftlich wird er beim längeren Atem seiner Partei einen Bärendienst erweisen. Denn die FDP wird zunehmend als Ansammlung der Nein-Sager empfunden, als Erbverwalter einer verblassenden Bundesrepublik alter Tage. Und als Spalterin. Damit zieht die FDP Hass auf sich. Das ist generell ungerecht, aber ein Trend. Er könnte die Partei zum Kentern bringen.

Auf einer Litfaßsäule las ich heute Morgen mit Edding geschrieben: „Wer hat, der gibt. Alle Parteien zur Kasse! FDP voran.“ Daran ist eine Menge falsch. Aber zum Menetekel der anderen Art taugt es schon.

Im Video: Aus für Neun-Euro-Folgeticket! Lindner dreht den Geldhahn zu