Die Niederlande machen es vor: innovative Pflege für Senioren

Die Niederlande machen es vor: innovative Pflege für Senioren

Die Niederlande stehen in dem Ruf, eines der besten Pflege-Systeme der Welt zu haben. Doch das kostet! Die Niederlande geben mehr Geld für Pflege aus als viele andere Industriestaaten. Trotzdem fehlen Zehntausende Pflegekräfte. Das Land steht vor riesigen Herausforderungen, denn die Zahl der Senioren wächst weiter rasant. Wie gehen die Niederlande damit um? Welche innovativen Altenpflegeformen werden entwickelt? Wie sieht die Realität vor Ort aus? Gibt es neue Pflegemodelle, die auch auf andere Staaten übertragbar sind? Unser Reporter hat sich auf eine Recherche-Reise quer durch die Niederlande begeben, um einige Antworten zu finden.

Nachbarn helfen Nachbarn

"Buurtzorg" ist heute einer der größten Pflegedienste der Niederlande, auf Deutsch kann man das wohl am besten mit "Nachbarschaftshilfe" übersetzen. Und doch geht es bei "Buurtzorg" nicht um Größe, Menge, Masse, Fließbandabfertigung, sondern um kleinteilige Strukturen, menschliche Nähe – und, das muss kein Widerspruch sein, um Kosteneffizienz. Um das zu verstehen, habe ich mich im Amsterdamer Stadtviertel Jordaan mit Léoni Koster verabredet. Die Palliativ-Pflegerin kümmert sich um Senioren, die ihren Lebensabend daheim verbringen möchten. Auch sie ist Teil von "Buurtzorg" – und auch nach Jahren im Pflegeberuf immer noch begeistert von ihrem Job.

Palliativ-Pflegerin Léoni Koster macht ihr Beruf immer noch Spaß
Palliativ-Pflegerin Léoni Koster macht ihr Beruf immer noch Spaß - euronews

Wegen Kostenexplosion und Fachkräftemangel ist das Pflegesystem der Niederlande seit 2006 eine Dauer-Baustelle: ständig wird reformiert und Neues ausprobiert. "Buurtzorg" ist Teil dieser Pflege-Revolution. Fünf Pfleger gründeten "Buurtzorg" 2007. Die Motivation damals könnte man umgangssprachlich als "Schnauze-voll-von-inkompetenten-Managern" beschreiben. Die Gründer hatten es in ihrem Arbeitsalltag immer wieder mitansehen, miterleben, miterleiden müssen, wie mittlere und obere Managementebenen sich aus Wichtigtuerei in den Pflegealltag einmischten, vieles zum Schaden der Patienten durcheinanderbrachten, Arbeitsabläufe sinnlos umstrukturierten und sich für das derart angerichtete Verwaltungs- und Arbeitschaos auch noch teuer bezahlen ließen!

Pflege-Revolution: Zeit auch für Gespräche

Mit ihrem "jetzt reicht es!"-Paukenschlag, der Gründung von "Buurtzorg" ganz ohne Manager, wurde das Pflegesystem der Niederlande zumindest teilweise wieder vom Kopf auf die Beine gestellt. Aus den 5 Gründungsmitgliedern wurden 15.000 "Buurtzorg"-Pfleger, die heute in etwa 1.000 Teams quer über das Land verteilt in Eigenverantwortung pflegen – und zuhören!

Léoni Koster, die Palliativ-Pflegerin im Amsterdamer Jordaan-Viertel, meint dazu: "Wir sind ein kleines Team mit acht Pflegekräften und wir sind völlig gleichberechtigt, jeder von uns ist voll mitverantwortlich. Das Management übernehmen wir selbst. Wir erstellen die Zeitpläne für unsere Kunden und entscheiden selbst, wie viel Zeit wir mit ihnen verbringen. Dabei geht es nicht nur allein um Pflege, sondern auch um Gespräche. – Wir haben die Zeit dafür, denn wir haben dank Selbst-Management kaum Betriebskosten – und das spart wirklich viel Geld."

Flache Hierarchien: Léoni Köster erstellt auch selbst die Zeitpläne
Flache Hierarchien: Léoni Köster erstellt auch selbst die Zeitpläne - euronews

Im Klartext: Effiziente Kleinteams völlig ohne Manager – das ist 30 Prozent billiger. Weshalb das Konzept nun weltweit kopiert wird. In den USA, aber auch in Australien, Japan, China, Singapur, Thailand, Großbritannien und Belgien laufen Pilotprojekte, die sich vom "Buurtzorg"-Beispiel der Niederlande inspirieren ließen.

Kleine Teams und kurze Wege

Léoni steigt auf ihr Rad und tritt in die Pedale. Besuch bei Gerrit, der Blasenkatheter des hochbetagten Mannes muss gewechselt werden. Lange muss Léoni nicht radeln, denn auch das ist ein Prinzip von "Buurtzorg": nah dran bleiben. Die Kleinteams sind jeweils so organisiert, dass die Pfleger keine größeren Strecken zurücklegen müssen, so geht erstens keine Fahrtzeit verloren, die dann bei der Pflege fehlen würde, und zweitens sind die Pfleger reaktiver, wenn irgendwann einmal etwas ganz Dringendes auftauchen sollte im komplizierten Pflege-Alltag.

Léoni Koster steigt eine dieser in den Niederlanden überall anzutreffenden, schmalen, steilen Stiegen empor in das obere Stockwerk einer Amsterdamer Stadtwohnung. "Da brauche ich nach der Arbeit garantiert keinen Ausgleichssport mehr", lacht Léoni fröhlich. Gerda, Gerrits 83-jährige Gattin, öffnet. Als Gerrit lange Zeit den Arm nicht mehr heben konnte, war sie es, die ihren Mann oft fütterte.

Zwischendurch war es nicht gut bestellt um Gerrit, ein Karzinom wurde diagnostiziert, jeden Tag kam ein Pfleger in der Wohnung vorbei. Doch seit einigen Wochen ist Gerrit wieder auf dem Damm, jetzt kommt Léoni nur noch dreimal die Woche. In Absprache mit den anderen Team-Mitgliedern – und falls nötig auch mit dem Hausarzt – regeln die Pfleger Häufigkeit und Dauer ihrer Besuche je nach Bedarf und ohne großen Bürokratieaufwand. Nach dem Katheterwechsel nimmt sich Léoni Zeit für ein Gespräch mit dem früheren Kneipenwirt. "Was gefällt Dir hier zuhause? Was bedeutet für Dich Lebensqualität", will sie von Gerrit wissen.

Gerrit Berndsen wird zu Hause gepflegt
Gerrit Berndsen wird zu Hause gepflegt - euronews

Gerrit Berndsen muss nicht lange überlegen: "Es ist gut, daheim zu sein. Ich mag mein Zuhause und meine Kinder. Meine Tochter ist ein echtes Papa-Kind. Klar, ihre Mama mag sie natürlich auch. Das müsstest Du mal hören, wie die miteinander reden: Die nennen sich Schätzchen oder Schnuckiputz. Manchmal legt sich meine Tochter zu mir, um mir Gesellschaft zu leisten: Ich will nicht, dass ihr beide sterbt, sagt sie dann. Dabei ist Sterben völlig normal. Irgendwann sterben wir alle mal."

Gerrit sagt das ohne Melancholie oder Bitterkeit. Seine Grundhaltung ist ein robustes "es ist halt so, wie es ist", auch wenn er auf keinen Fall sofort "die Pfeife abgeben will", denn: "Mir gefällt das Leben. Hoffentlich kann ich in einigen Wochen mit zum Strandurlaub nach Zandfoort, da will die Familie einen geländegängigen Allrad-Buggy mieten, damit wir zusammen an den Strand können."

Noch immer hat Gerrit breite Schultern. Das kommt vom Boxen. 1954 und 56 wurde er niederländischer Vize-Meister im Leichtgewicht. Doch die Boxhandschuhe, Fotos und Zeitungsausschnitte hat er längst entsorgt, Gerrit lebt im Hier und Heute, nicht in der Vergangenheit. - Auch Gerrits rüstige und mobile Frau Gerda wird von Léoni miteinbezogen: "Die Pfleger sind echt nett – und reden auch mit mir", betont Gerda. "Und dass sie das tun, ist wirklich wichtig." Man brauche halt zwischendurch mal jemanden, mit dem man wirklich alles, auch Schwieriges, besprechen könne. Und was meint sie zur Debatte Pflege daheim oder im Pflegeheim? Hier sind sich Gerda und Gerrit einig. Gerda: "Zuhause hast Du Deine Angehörigen um Dich herum, während es im Krankenhaus eher traurig und ungemütlich zugeht."

Gerrits rüstige und mobile Frau Gerda wird von Léoni miteinbezogen
Gerrits rüstige und mobile Frau Gerda wird von Léoni miteinbezogen - euronews

Mangel an Pflegepersonal

Das hört sich alles sehr schön an, funktioniert heute auch recht gut, nur: Es fehlt an Pflegern. Die Schätzungen gehen auseinander, doch manche Berechnungen zeigen, dass das Wort "Pflegenotstand" auch heute noch seine Berechtigung hat in den Niederlanden, fehlen doch bis zu 80.000 Fachkräfte im Pflegebereich. Das ist – in Bezug gesetzt zur Bevölkerungszahl des Landes – enorm!

Palliativschwester Léoni verweist auf ein weiteres Problem, die Überalterung in der Branche. Sie selbst ist in den 40ern – und damit im Team die Jüngste. In ein paar Tagen bekommt ihr Jordaan-Nachbarschaftsteam einen "Neuzugang". Alter des "Neuen": 64 Jahre.

Und so ähnlich sieht es auch anderswo in den Niederlanden aus: Viele Pfleger sind nicht mehr ganz jung. Und es fehlt an Nachwuchs. "Buurtzorg" versucht das Problem dadurch abzufedern, dass man sich bemüht, den Pflegern ideale Arbeitsbedingungen zu bieten, interne Fortbildungen, Qualifizierungsangebote, selbstbestimmte Arbeitsabläufe, ein Minimum an Papierkram, ein gemütliches Arbeitsumfeld.

Vorausschau und Vernetzung

Fahrt nach Süden, aufs flache Land. Im Neubauviertel Brandevoort der Gemeinde Helmond entdecke ich Geheimnis Nummer Zwei des niederländischen Pflegesystem-Erfolgs: Vorausschau und Vernetzung.

Marie-José und Iet sind Teil eines innovativen Konzepts, das sich "Vorsorge-Pflegekreis" nennt. Heute holen sie in der Apotheke Medizin für ihre betagte Nachbarin Marta. Die Kleinstadt ist mit einem dichten Netz solcher Pflegekreis-Gruppen überzogen.

Im Vorsorge-Pflegekreis werden oft praktische Dinge besprochen
Im Vorsorge-Pflegekreis werden oft praktische Dinge besprochen - euronews

Gemeinden und Versicherungen unterstützen das Konzept, denn es entlastet Pflege- und Sozialdienste, wenn es um einfach zu lösende Alltagsprobleme geht.

Ton Dries ist der Initiator des Vorsorge-Pflegekreises im Neubauviertel Brandevoort: "Zunächst einmal geht es meist um praktische Dinge, bei denen sich die Leute helfen können: Kannst Du mir helfen, das Bett auseinanderzunehmen? Kannst Du mir den Rasen mähen, beispielsweise. In einigen Jahren werden dann Pflege-Fragen ganz von alleine auftauchen. Heute sind unsere Senioren in der Gruppe ja noch recht vital, doch auch diese vitalen Menschen werden in der Zukunft Pflege-Fragen haben."

Ton Dries holt Luft, dann kommt der Teil, der für ihn entscheidend ist: "Es ist wichtig, sich gut kennenzulernen, dann traut man sich auch zu fragen, denn normalerweise bittet man bei Pflege-Angelegenheiten nicht jemand Wildfremden."

Ton Dries (li.) ist der Initiator des Vorsorge-Pflegekreises im Neubauviertel Brandevoort
Ton Dries (li.) ist der Initiator des Vorsorge-Pflegekreises im Neubauviertel Brandevoort - euronews

Iet Heystee kümmert sich in der Gruppe um Angebot und Nachfrage: "Ich als Organisator bekomme die Anfragen der Mitglieder. Dann sehen wir uns gemeinsam an, wer am besten einspringen kann. Zuerst schauen wir nach, wer am nächsten dran wohnt. Wer kann helfen? Wer will helfen?"

Iet Heystee kümmert sich in der Gruppe um Angebot und Nachfrage
Iet Heystee kümmert sich in der Gruppe um Angebot und Nachfrage - euronews

Dabei geht es momentan noch um Hilfe von Senioren für Senioren. Um Vertrauen aufzubauen und sich näher kennenzulernen, organisieren die Gruppen regelmäßige Treffen im Gemeindesaal, gemeinsame Stadtspaziergänge und andere Aktivitäten.

Elsken Sanders spricht über ihre eigene Situation: "Meine Sozialkontakte waren alle weg, wegen Corona – und direkt anschließend wurde mein Mann erneut krank, er hat Demenz, und meine Welt wurde plötzlich sehr klein. Als dann Iet und Marie-José vorbeikamen, haben wir erstmal die Lage besprochen. Ich singe in einem Chor, aber aufgrund der Umstände, war ich seit vier Jahren nicht mehr beim Singen, ich konnte ja meinen Mann Rien nicht allein zu Hause lassen. Iet hat dann vorgeschlagen, immer donnerstagabends zu kommen und mit Rien zu plaudern, sodass ich zur Chorprobe gehen konnte. Ich bin richtig aufgeblüht. Die Gruppe hat mir wirklich großartig geholfen."

Elsken Sanders erzählt, wie ihr geholfen wurde
Elsken Sanders erzählt, wie ihr geholfen wurde - euronews

Telemedizin in der Pflege: Technik spart Kosten

Dritte Station meiner Reise ist das Dorf Dodewaard. Hier hilft Telemedizin bei der Pflege. Ich besuche Johan Gaasbeek, vor der Rente hat er bei der Wasserbehörde der Niederlande gearbeitet. Bei einem Fußballspiel seiner Lieblingsmannschaft AFC Ajax brach er mitten im Stadion zusammen, Herzanfall in der zweiten Halbzeit. Glücklicherweise war das zentrale Krankenhaus gleich um die Ecke, die Sanitäter brauchten gerade einmal drei Minuten für den Supernotfall, erzählt Johan, das rettete ihm das Leben.

Trotz Herzschwierigkeiten und einer Reihe weiterer Altersprobleme kann Johan Gaasbeek heute wieder ruhig schlafen, denn neben seinem Bett steht ein kleines Kästchen: Sein Herzschrittmacher schickt ständig Daten ins Krankenhaus, rund um die Uhr, auch nachts. Die Sende-Technik bekommen die Patienten kostenlos zur Verfügung gestellt. Auch Johans Frau Gerda findet das System gut, es vermittelt ein Gefühl der Sicherheit, das Ehepaar wird nicht allein gelassen.

Johan Gaasbeek kontrolliert seine Gesundheitsdaten selbst
Johan Gaasbeek kontrolliert seine Gesundheitsdaten selbst - euronews

Seinen Blutdruck und sein Gewicht misst Johan täglich selbst und notiert die Ergebnisse in einer speziellen Medizin-App. Am anderen Ende der App wacht Schwester Kim mit ihrem Team über Johan Gaasbeek und 600 weitere Herzpatienten, die in ihren vier Wänden, im trauten Zuhause leben. Die Technik spart Kosten. Und die Patienten sparen Zeit.

Johan Gaasbeek: "Das Wichtigste ist, dass ich nicht mehr so oft ins Krankenhaus muss, wenn es mir gut geht. Und ich fühle mich heute sicherer. Ich kann alles selbst checken, das ist ausgesprochen praktisch."

Pflegerin Kim Van Zutphen: "Wir können uns noch besser kümmern, weil wir die Blutdruckwerte täglich oder wöchentlich bekommen, statt nur einmal alle drei Monate beim Krankenhausbesuch. Vielleicht können wir so mehr Patienten mit weniger Personal betreuen."

Das bedeutet nicht, dass Schwester Kim nur noch vor Computer und App sitzt. In der Herzklinik kümmert sie sich auch weiterhin um eingelieferte Neuzugänge, betreut Schwerstfälle im Krankenhausbett – und schiebt hier und da die eine oder andere Stunde App-Dienst und Bildtelefonate mit Heimpatienten wie Johan ein.

Labor zum Testen neuer Lebensformen im Alter

Die Niederlande sind gewissermaßen ein Labor zum Testen neuer Lebensformen im Alter. Eine der führenden Forscherinnen auf diesem Feld ist Yvonne Witter, eine Soziologin. Ich treffe sie am Rande eines Fachkongresses, bei dem fast 1.000 Pflegespezialisten aus Gesundheits- und Pflegediensten, Versicherungsbranche, Politik, Wirtschaft und Forschung die neuesten Erkenntnisse austauschen.

Euronews: "Was könnten die europäischen Nachbarn vom niederländischen Pflegemodell lernen?"

Witter: "Wir hier in den Niederlanden sind wirklich gut darin, ein sehr hohes Pflegeniveau zu halten, wenn man das mit anderen Ländern vergleicht. Wir kooperieren besser, und zwar sowohl die Senioren untereinander, als auch die Senioren mit ihrem jeweiligen Umfeld, mit Angehörigen, Nachbarn oder freiwilligen Helfern. Wir arbeiten wirklich Hand in Hand, das Zusammenspiel zwischen professioneller Pflege und informeller Pflege klappt gut. Und genau das wird benötigt."

Euronews: "Auch in den Niederlanden fehlt es an Fachkräften, an Pflegern. Gleichzeitig wird in den kommenden Jahren der Bedarf an Pflegekräften weiter zunehmen. Wie sehen Sie das?"

**Witter: *"***Der Personalmangel ist riesig. Um das einmal einzuordnen: Heute ist etwa jeder sechste Arbeitnehmer im Gesundheits- und Pflegebereich tätig. Wenn die Politik nicht umsteuert, müsste im Jahr 2040 ein Viertel der Arbeitnehmerschaft in der Pflege arbeiten."

Euronews: "Und wie könnte dem Pflegekräftemangel Abhilfe geschaffen werden?"

Witter: "Zunächst einmal muss das Arbeitsumfeld stimmen, es braucht Anreize, damit Menschen im Pflegebereich arbeiten. Und wir müssen auf noch stärkere Zusammenarbeit mit Freiwilligen setzen, den informellen Pflegebereich ausbauen."

Euronews: "Was soll das konkret heißen?"

Witter: "Wir müssen kreative Lösungen finden, beispielsweise beim Aufbau informeller Netzwerkstrukturen. Ausgangsfrage dabei sollte sein: Ist dieses oder jenes Problem wirklich ein Pflegeproblem – oder ist es nicht eher ein Wohlfühlproblem oder ein Transportproblem oder sonst etwas? In diesem Fall könnte man dann jeweils andere Lösungsansätze finden (und damit die Pfleger entlasten)."

Euronews: "Ist das in Zukunft überhaupt noch finanzierbar, das großzügige niederländische Gesundheits- und Pflegesystem?"

Witter: "Ich denke, es sollte vermehrt in Vorbeugung und Vorsorge investiert werden, dann braucht es weniger Pflege. Ich denke da beispielsweise an diese Vorsorge-Pflegekreise, in denen Leute aktiv bleiben, sich kennenlernen, helfen – und dadurch weniger Pflege benötigen. Das ist billiger. Im Prinzip ist genug Geld da, nur wird es teilweise falsch ausgegeben."

**Euronews: *"***Die Niederlande gelten international als eine Art Pflege-Innovations-Weltmeister. Können Sie das mal an einem konkreten Beispiel festmachen?"

**Witter: "**In den Niederlanden brauchen wir neuartige Wohnformen, irgendetwas zwischen Zuhause-Leben und Pflegeheim. Man kann Häuser teilen, man kann gemeinsam wohnen, man kann Generationen miteinander in Verbindung bringen und mehr kollektive Wohnformen entwickeln. Und genau das geschieht derzeit. Das ist Teil der Lösung, übrigens gleich für mehrere Probleme. Einsamkeit im Alter, die Krise auf dem Wohnungsmarkt, der Pflegefachkräftemangel, all das kann dadurch angegangen werden, dass man auf diverse Nachbarschaftsmodelle, auf neuartige Wohnkonzepte setzt."

Liv Inn: bunt gemischte Bewohner einer Wohngemeinschaft

Neuartige Wohnkonzepte? Wie sieht so was konkret aus? Zum Abschluss dieser Reportagereise quer durch die Niederlande gibt es noch einen Abstecher nach Hilversum zur innovativen Wohngemeinschaft Liv Inn. 150 Menschen leben in dem Gebäudekomplex, bunt gemischt: hauptsächlich Senioren – aber auch einige Studenten. Reiche Rentner – aber auch Senioren mit Sozialhilfe. Kranke und Gesunde, mit oder ohne Rollstuhl.

Wer das zentral gelegene und verkehrstechnisch perfekt angebundene Gebäude betritt, kann auf der lichtdurchfluteten, offen angelegten, riesigen Gemeinschafts-Etage wählen: Nach links geht es zum gemütlichen Billardtisch und zur Shuffleboard-Ecke, aus der Scrabble-Runde tönt das fröhliche Gelächter von Lon. Geradeaus lädt eine ultramoderne Gemeinschafts-Hobbyküche ein zum Schälen, Schneiden und Schnibbeln, gerade kommt Gerrit mit großer Einkaufstüte und befüllt den Kühlschrank. Treppab geht es in den mit Werkzeugen und Maschinen perfekt ausgestatteten Hobbykeller, Traum eines jeden Bastlerherzens, hier sägt und feilt Ron an diversen Holzteilen.

Um jedem Missverständnis sogleich vorzubeugen, nein, das Liv Inn ist kein Altersheim. So etwas gibt es in den Niederlanden nicht mehr. Durch die Hintertüre schlurfen zwei Studenten. Aus dem Aufzug schiebt sich eine hochbetagte Dame im Rollstuhl mit Hündchen. Auf der Küchenanrichte hantiert eine Jung-Seniorin mit Käse und Leberwurst. Sicher, die meisten Einwohner sind älter. Aber wichtig ist eben, dass hier alle Altersstufen, Einkommens- und Bevölkerungskategorien Tür an Tür neben- und miteinander leben.

Scrabble-Königin Lon Minco tauschte ihr hübsches, kleines Haus am Wasser mit Ruderboot und steilen Stiegen gegen eine Wohnung im Liv Inn. "Ich konnte immer schlechter laufen, das steile Treppensteigen in meinem früheren Haus war nicht mehr möglich. Um mit meinem Rollstuhl aus dem Haus zu kommen, brauchte ich jedes Mal eine halbe Stunde Rumgefluche. – Als ich dann das hier sah, dachte ich mir: Das ist es!"

Lon Minco fühlt sich wohl im Liv Inn
Lon Minco fühlt sich wohl im Liv Inn - euronews

Anschluss ist schnell gefunden, darin sind sich alle Einwohner einig. "Es ist quasi in das Gebäude schon architektonisch mit eingebaut, sich zu treffen, gemeinsam etwas zu unternehmen", meint Lon Minco nach gewonnener Scrabble-Runde. "Da ist beispielsweise dieser riesige Hobbyküchenbereich, wo man zusammen kochen, essen, reden kann. Man braucht nur aus seiner Wohnung runterzukommen und schon trifft man auf Gruppen, die einen ansprechen, einladen."

Lydia Hueting war mit einem Automechaniker verheiratet und hat so einiges gesehen und erlebt in ihrem 80-jährigen Leben. Die fidele Dame in knallroter Abendgarderobe arbeitete als Kassiererin, Eisverkäuferin, dann in einem Spielzeugladen und sogar auf einem Campingplatz in Frankreich. Hier im Liv Inn zahlt sie dank einer Wohnbeihilfe zwei Drittel weniger Miete als vorher. Für sie war das anfangs der Hauptgrund, einzuziehen. Doch bald entdeckte sie weitere Vorteile der groß angelegten Wohngemeinschaft.

Lydia Hueting bereut ihre Entscheidung für das Liv Inn nicht
Lydia Hueting bereut ihre Entscheidung für das Liv Inn nicht - euronews

Lydia Hueting: "In meinem früheren Haus hatte ich weniger Sozialkontakte als hier und ich bin heute sehr viel aktiver. Ich organisiere gemeinsame Aktivitäten und ich engagiere mich sehr viel mehr für andere Menschen als früher." Gerade eben hat sie einen Eiswagen angemietet. Das war ihre eigene Idee. Und sie hat es selbst organisiert, die Kosten berechnet, den Eispreis kalkuliert: Pro Kugel wird sie beim kommenden Grillfest zwei Euro verlangen, dann geht die Rechnung auf.

Anders formuliert: Jede Art von Eigeninitiative findet begeisterten Widerhall, die Senioren organisieren sich selbstständig, je nach Mobilitätsgrad, Erfindungsreichtum, Lust und Laune. Der frühere Prothesenbauer und Taxifahrer Gerrit lebt seit fünf Jahren hier. Weil er gerne unterwegs ist, übernimmt er oft Kleineinkäufe, um den Gemeinschaftskühlschrank aufzufüllen.

Auch der frühere LKW-Fahrer Ron Mokkenstorm hilft, wo er kann. Am Tag meines Besuchs repariert er im Hobbykeller kleine Holztore für ein Shuffleboard-Spiel.

Der frühere LKW-Fahrer Ron hilft, wo er kann
Der frühere LKW-Fahrer Ron hilft, wo er kann - euronews

Mitmachen, Selbstorganisation, Solidarität – darauf wird im Liv Inn großer Wert gelegt. Das Konzept hilft zudem, die Krise auf dem Wohnungsmarkt zu lindern. Wie das? Ron hat eine einleuchtende Erklärung:

Ron Mokkenstorm: "Früher haben wir in einem großen Haus gelebt, aber wir brauchen die vielen Zimmer nicht mehr." - Durch den Umzug vieler Senioren in Gemeinschaftsresidenzen haben junge Familien wieder eine Chance, auf dem Wohnungsmarkt ein Haus zu finden, so die Logik. Das Konzept geht aber nur dann auf, wenn die Senioren ihre gewohnte Lebensqualität beibehalten können. Im Fall von Ron heißt das konkret: Kreissäge, Hammer, Bohrmaschine! "Mir gefällt besonders die Werkstatt hier im Liv-Inn, weil ich auch früher immer gerne rumgebastelt habe, meine Werkstatt sah so ähnlich aus, die war aber unterm Dach. Zusammen mit dem Gemeinschaftsbistro hier im Liv-Inn und der Gemütlichkeit überall hat das den Ausschlag gegeben hier einzuziehen."

In der Hobbyküche bereitet Rons Ehefrau Edit Häppchen vor. Zeit für ein paar Zahlen: Sollten die pessimistischsten Schätzungen eintreffen, dann könnten 2040 fast doppelt so viele Senioren in den Niederlanden leben wie 2020.

Das Sozialunternehmen Habion verwaltet 12.000 Wohnungen, darunter auch die Liv-Inn-Wohngemeinschaften. Manager Peter Boerenfijn erklärt das Konzept: "Als wir die Senioren befragt haben, wie sie alt werden möchten, sagten alle: Wir wollen nicht nur allein mit älteren Menschen leben, wir wollen auch vitale Menschen, junge Menschen um uns haben. Daraus entstand unsere Idee, Menschen (aller Altersstufen) zu mischen, sodass sie gemeinsam alt werden."

Habion-Manager Peter Boerenfijn erklärt das Konzept
Habion-Manager Peter Boerenfijn erklärt das Konzept - euronews

Etwa zehn Prozent der Wohnungen werden an junge Menschen vergeben. Marieke Hillinga ist 30 Jahre alt und arbeitet für einen Spielzeughersteller. Sie lebt hier zusammen mit ihrem Freund, einem Schüttgut-Binnenschiffer, der viel unterwegs ist: "Wenn das Wochenende startet, gehe ich zusammen mit meinem Freund runter in den gemeinsamen Aufenthaltsraum, weil es Spaß macht, zusammen mit den Senioren was zu trinken und zu tratschen. Man fragt, wie es geht und hat einen guten Start ins Wochenende. Man lacht zusammen und es ist supergemütlich."

Marieke Hillinga ist 30 Jahre alt und arbeitet für einen Spielzeughersteller
Marieke Hillinga ist 30 Jahre alt und arbeitet für einen Spielzeughersteller - euronews

Auf der Suche nach innovativen Pflege-Konzepten, reisen mittlerweile Experten aus der ganzen Welt in die Niederlande. Oft sind die Antworten, wie das Land versucht, Überalterung und Pflegekrise beizukommen, recht einfach: Weniger Verwaltungsaufwand und Abspecken auf der Management-Ebene senken die Kosten bei der Pflege daheim. Bessere Vernetzung in der Nachbarschaft und die flächendeckende Einführung informeller "Vorsorge-Pflegekreise" entlasten die Sozialdienste. Telemedizin und moderne Bildtechnik ermöglichen gute Pflege auch außerhalb städtischer Ballungsgebiete. Innovative Wohnkonzepte entlasten den freien Wohnungsmarkt, helfen gegen Alters-Einsamkeit – und sorgen für gute Laune auch im hohen Alter.