Streit über Gründe für den Absturz - Nach dem Wahldebakel zerfleischen sich die Grünen plötzlich selbst

Ricarda Lang und Omid Nouripour, Parteivorsitzende der Grünen, und Terry Reintke, Spitzenkandidatin der Partei bei der Europawahl, haben wenig Grund zum Feiern.<span class="copyright">Christoph Soeder/dpa</span>
Ricarda Lang und Omid Nouripour, Parteivorsitzende der Grünen, und Terry Reintke, Spitzenkandidatin der Partei bei der Europawahl, haben wenig Grund zum Feiern.Christoph Soeder/dpa

Das Desaster der Grünen bei der Europawahl belebt den alten Konflikt zwischen Realo-Flügel und Fundamentalisten neu. Die Realos hadern mit der Parteispitze und werfen ihr strategische Schwächen sowie eine verfehlte Wahlkampfführung vor.

In der internen Fehleranalyse der Grünen zu ihrem Misserfolg bei der Europawahl meldet sich ein alter Konflikt zurück, der lange in den Hintergrund getreten war: der zwischen dem realpolitischen und dem eher fundamentalistischen Flügel der Partei. Unter den Realos rumort es erheblich. Nach Informationen von FOCUS online wollen sie Anfang Juli bei einem Treffen über Konsequenzen aus der Wahlschlappe beraten.

Der Parteiflügel verlangt eine ernsthafte Aufarbeitung des Misserfolgs und wirft der Parteispitze Versäumnisse im Wahlkampf vor. Unter anderem heißt es: „Wir haben die Jungen verloren, weil wir keine Digitalstrategie hatten.“

Auch habe die Parteiführung dem Aufkommen der konkurrierenden Partei Volt, die mit drei statt bisher einem deutschen Abgeordneten ins Europäische Parlament einziehen konnte (plus zwei Abgeordneten der Schwesterpartei aus den Niederlanden), zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet: „Unsere Sympathisanten sind ihre zukünftigen Wähler. Wir müssen mit etwas Neuem um die Ecke kommen, sonst haben wir mit Volt eine neue grüne Realo-Partei.“

Im Gegensatz zu den Grünen konnte Volt bei Jungwählern zulegen. Doch sind es im Expertenurteil nicht nur Versäumnisse in der Digitalstrategie, die diese Wählergruppe von den Grünen entfremdet haben. Peter Hefele, Policy Director bei der Brüsseler Denkfabrik Martens Center, schreibt dazu in einer Wahlanalyse: „Während Klimaaktivisten immer ein großes Medienecho haben, haben sie nie die junge Generation repräsentiert.“

Böll-Stiftung sieht Grüne als „Prügelknaben der Nation“

Auch die Betonung der sogenannten „Identitätspolitik“, also der Belange gesellschaftlich benachteiligter Gruppen, habe im jungen Wählersegment nicht verfangen, wird im Realo-Flügel bemängelt. Unmittelbar nach der Wahl hatte die Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion, Britta Haßelmann, zudem eingestanden: „Wir sehen, dass wir uns in den letzten Jahren wahrscheinlich zu wenig den Folgen der Corona-Pandemie gewidmet haben, gerade für die junge Generation.“

Als „Prügelknaben der Nation“ sieht die parteinahe Heinrich-Böll-Stitung die Grünen in ihrer Wahlnachlese. Sie hält fest: „Grüne Politik wird mitunter als Ausdruck eines spezifischen Lebensstils betrachtet, der sich über andere stellen würde.“ Laut Stiftungsanalyse haben die Grünen Erwartungen, die mit ihrem Regierungsantritt verbunden waren, zu wenig an „neue Realitäten“ angepasst. Darunter verstehen die Autoren der Studie Pandemie, Inflation und Krieg – die Themen, die den Alltag der Bürger in den vergangenen Jahren stark prägten.

„Kluft zwischen Parteifunktionären und Bevölkerung“

Das trifft sich mit der Realo-Kritik, die Partei habe zu wenig darauf reagiert, „dass die Welt draußen sich verändert“. Zu öffentlichen Fürsprechern des Realo-Unmuts machten sich im Berliner „Tagesspiegel“ die Ex-Grünen-Politiker Rezzo Schlauch und Daniel Mack. Sie mahnten: „Übliche Parteisprech-Erklärungen und die nach Niederlagen gewohnten Aufräumarbeiten der Gremien reichen hier nicht mehr aus.“

Recht unmissverständlich forderten sie personelle Konsequenzen: „Die Kluft zwischen Mandatsträgern, Parteifunktionären und der Bevölkerung scheint erheblich zu sein. Der richtige Zeitpunkt für ein Umdenken in der fehlgeleiteten Personalpolitik ist jetzt.“

Für eine inhaltliche Neuausrichtung der Partei empfehlen die Autoren der Wahlanalyse der Böll-Stiftung: „Zentrale Bedürfnisse, wie jene nach sozialem Aufstieg und einem hohen Lebensstandard, müssen stärker gehört und in Sprache und Kommunikation anerkannt werden.“ Vor der Wahl gingen von der Grünen Jugend andere Signale aus. Ihre Bundessprecherin Katharina Stolla erregte in der Talkshow „Markus Lanz“ Aufmerksamkeit mit der Forderung nach einer Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich und der Äußerung: „Dass man keine Lust mehr hat, viel zu arbeiten, finde ich total vernünftig.“

Flügelkampf um „Stimmungsmache“ der Realos

Der eher linke Parteiflügel der Grünen tröstet sich in seinen Hochburgen Berlin und den Universitätsstädten damit, dass sie dort immer noch eine starke Stellung hätten. Im Bremer Landesverband meldete sich Marlin Meier, dort Vorstandsmitglied, mit Kritik an „einer Riege alter Mandats-Realos“ zu Wort, „die uns jetzt erklärt, dass eigentlich die Grüne Jugend mit ihrem Linkskurs schuld an dem schlechten Abschneiden der Grünen bei Jugendlichen sei“. Durch „fast jedes Realo-Papier“, so Meier weiter, halle nun der Ruf, dass die politische Geschäftsführung der Partei die Kampagne zu verantworten habe, personelle Konsequenzen folgen müssten. Dies sei „Stimmungsmache“.

Kein Zweifel: Der Flügelkampf hat die Grünen wieder eingeholt. Erfolg verbindet, Misserfolg entzweit. Für die Zukunft der Partei wird viel davon abhängen, wie ernst es die Parteiführung mit dem Versprechen des Co-Parteichefs Omid Nouripour hält, man werde zur Aufarbeitung des Wahlergebnisses „viele Steine umdrehen“. Genug Steine liegen seiner Partei derzeit im Wege.