TV-Kolumne „Alptraum Amtsdeutsch“ - „Ich stehe über dem Bürger“: Doku offenbart den Irrsinn in deutschen Ämtern

Ist das Behördenkauderwelsch mit Bandwurmwörtern und Nebensatz-Kumulation womöglich nichts anderes als eine gut getarnte Sparmaßnahme?<span class="copyright">Christoph Soeder/dpa/dpa-tmn</span>
Ist das Behördenkauderwelsch mit Bandwurmwörtern und Nebensatz-Kumulation womöglich nichts anderes als eine gut getarnte Sparmaßnahme?Christoph Soeder/dpa/dpa-tmn

Man spricht deutsch? Nicht in deutschen Ämtern, in Steuerformularen und Rechtsbescheiden. Endloswörter und Schachtelsätze lassen den Bürger hier oft ratlos zurück. Kann die Verwaltung nicht anders – oder hat das Verwirrspiel System?

Sprache verbindet die Menschen, sagt man. Doch es gibt einen Lebensbereich, in dem Sprache genau das Gegenteil bewirkt: Sie trennt Menschen in einen Teil, der versteht, wovon die Rede ist – und einen Teil, der maximal verwirrt zurückbleibt.

Etwa, wenn Wiesen als „abflusswirksame Flächen“ bezeichnet werden, Bäume als „raumübergreifendes Großgrün“ und Schuttabwurf als „Materialtransport im freien Fall“. Deutsch und Amtsdeutsch sind zwei Sprachwelten, deren Grenzzaun allzu oft unüberwindlich scheint.

Muss das so sein? In der Doku „Alptraum Amtsdeutsch“ (in der ARD-Mediathek abrufbar) will das junge ostdeutsche Reporterformat „exactly“ herausfinden, ob es nicht auch anders geht, also verständlicher. Denn während der Staat gerne über Barrierefreiheit oder Inklusion doziert und über verbale Neuerfindungen alle denkbaren Geschlechter ansprechen will, gibt er zugleich in seinen Anträgen, Formularen und Rechtsbehelfsbelehrungen alles, um möglichst viele Menschen auszuschließen: Wer nicht weiß, was eine „Einstehensgemeinschaft“ ist, muss leider draußen bleiben.

Beamtendeutsch: eine gut getarnte Sparmaßnahme?

Auf YouTube fragt die „exactly“-Redaktion die User nach ihren Erfahrungen mit Amtsdeutsch. Sie erhält Antworten wie „Amtspost kickt schon anders. Selbst wenn drinsteht, dass man Geld bekommt, ein Scheißgefühl.“ Ein anderer rät: „Lifehack: Behördenpost einfach nicht öffnen.“

Die Vogel-Strauß-Taktik aber ist kein guter Tipp. Wer seine Lohnsteuererklärung nicht einreicht, weil er schon auf Seite eins des Formulars kapituliert, verzichtet auf eine mögliche Erstattung. Wer nicht herauszufinden versucht, was „Bildungs- und Teilhabeleistungen“ sind, bekommt diese auch nicht überwiesen.

Ist das Behördenkauderwelsch mit Bandwurmwörtern und Nebensatz-Kumulation also womöglich nichts anderes als eine gut getarnte Sparmaßnahme?

Falsch ausgefüllte Formulare kosten Zeit, Nerven – und Geld. Die darauf folgende Ablehnung zu verstehen und einen entsprechenden Widerspruch zu formulieren, potenzieren das Bürokratie-Drama noch einmal. Gutwillig könnte man argumentieren: Anträge müssen nun einmal so formuliert werden, dass sie rechtssicher sind, also im Extremfall vor Gericht Bestand haben. Die wahre Zielgruppe sind also Rechtsanwälte und Richter – und nicht Otto Normalbürger.

Ganze Berufsstände – Steuerberater, Anwälte, Berater – bauen ihre Existenz darauf auf

Man könnte auch vermuten: Sachbearbeiter können es schlicht nicht anders. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen etwa haben es sich die Finanzämter zur Aufgabe gemacht, Musterschreiben hinsichtlich Verständlichkeit zu überarbeiten. Was hat sich geändert? Statt „vom Hundertsatz“ wird nun von „Prozent“ gesprochen, aus „Lichtbild“ wurde das Foto, aus „fernmündlich“ telefonisch.

Aus dem Satz „Die Begründetheit des Rechtsbehelfs ist im Verfahren zur Entscheidung über Anträge auf Aussetzung der Vollziehung nur in einem begrenzten Umfang zu prüfen“ wurde „Wenn das Finanzamt über den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung entscheidet, prüft es nur überschlägig, ob der Einspruch begründet ist.“ Eine Verbesserung? Nur im eher kleinen Bereich vom Hundertsatz.

Böswillig könnte man jedoch sagen: Da steckt Absicht dahinter. Behördenbescheide werden frustriert hingenommen anstatt hinterfragt, wenn bereits Anforderungen und Argumentation nicht verstanden werden. Ganze Berufsstände – Steuerberater, Anwälte, Berater – bauen ihre Existenz darauf auf, dass der deutsche Michel für die Kommunikation mit dem Staat und seinen Ämtern einen Dolmetscher benötigt.

„Ich stehe aber über dem Bürger“, heißt es dann aus der Amtsstube

Michaela Blaha von der Gesellschaft für verständliche Sprache hat da noch einen anderen Verdacht. Denn wenn sie Behörden darin schult, wie Formulare besser gestaltet werden können, hört sie mitunter Äußerungen wie „Ich stehe aber über dem Bürger“. Oder: „Warum soll ich mich auf niedrigeres Niveau begeben?“

Für Kurt Herzberg, Bürgerbeauftragter des Freistaats Thüringen, beginnt bereits mit dem unverständlichen Behördenbrief „das Krebsgeschwür des Unmutes, auch des Zweifelns an der Funktionsfähigkeit unseres demokratischen Rechtsstaates“.

Blahas trauriges Fazit: Auf Einsicht seitens der Behörden oder gar Vernunft brauche man hier nicht zu warten. „Ich glaube, dass hier Druck ausgeübt werden muss, dass sich tatsächlich etwas verändert“.

Theoretisch gibt es diesen Druck allerdings bereits: Seit 2011 sind Behörden dazu verpflichtet, ihre Internetseiten auch in der Version „leichte Sprache“ anzubieten. Die „Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik nach dem Behindertengleichstellungsgesetz“ verpflichtet dazu, „Informationen und Dienstleistungen öffentlicher Stelle, die elektronisch zur Verfügung gestellt werden, sowie elektronisch unterstützte Verwaltungsabläufe mit und innerhalb der Verwaltung, einschließlich der Verfahren zur elektronischen Aktenführung und zur elektronischen Vorgangsbearbeitung, für Menschen mit Behinderungen zugänglich und nutzbar zu gestalten“.

Dass dies bislang noch nicht vollumfänglich umgesetzt wurde, liegt vielleicht daran, dass viele Behörden aktuell noch versuchen, dieses Gesetz zu verstehen.