Wer bekommt die Spitzenpositionen in Europa?

Wer bekommt die Spitzenpositionen in Europa?

Am Montag beginnen die Verhandlungen darüber, wer die Europäische Union in den nächsten fünf Jahren leiten wird. Es geht um die Präsidentschaft der Europäischen Kommission, den Vorsitz des Europäischen Rates und das Amt des EU-Außenbeauftragten.

Auf dem informellen Gipfel werden die 27 Staats- und Regierungschefs darüber feilschen, wer der nächste Präsident der Europäischen Kommission, der Präsident des Europäischen Rates und der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik werden soll.

Die Verhandlungen sind traditionell ein heikler Jonglierakt: Bei der Verteilung der Spitzenämter müssen politische Zugehörigkeit, geografische Herkunft und Geschlechtergleichgewicht berücksichtigt werden, um die größtmögliche Unterstützung am Tisch zu gewährleisten.

2019 wurde die Auswahl nach mehrtägigem Ringen getroffen, einschließlich eines nächtlichen Marathons, der die Staats- und Regierungschefs sichtlich erschöpft zurückließ.

Dieses Mal könnte es für Brüssel einfacher werden

Nach den Wahlen hat sich schneller ein Konsens herauskristallisiert, als viele erwartet hatten: Ursula von der Leyen für die Kommission, António Costa für den Rat und Kaja Kallas als Hohe Vertreterin.

"Das ist die Richtung, in die es geht", sagte ein Diplomat, der anonym bleiben wollte. "Es gibt ein klares Interesse daran, schnell Klarheit und Vorhersehbarkeit zu bekommen."

Ein anderer Diplomat meinte, das schnelle Tempo, mit dem das Paket geschnürt wurde, sei vor allem auf den Mangel an glaubwürdigen Alternativen seitens der Parteien zurückzuführen.

Obwohl die Hoffnungen auf eine rasche Lösung groß sind, könnte die endgültige Einigung beim Abendessen am Montag nicht besiegelt und auf den offiziellen Gipfel am 27. Juni verschoben werden.

Die Europäische Kommission: Ursula von der Leyen

Ursula von der Leyen will für eine zweite Amtszeit an die Spitze der Europäischen Kommission.
Ursula von der Leyen will für eine zweite Amtszeit an die Spitze der Europäischen Kommission. - European Union, 2024.

Seit der Ankündigung ihrer Wiederwahl im Februar gilt von der Leyen als unumstrittene Spitzenkandidatin für das Amt der Europäischen Kommission. Die 65-jährige Deutsche hat die Exekutive in den letzten fünf Jahren durch mehrere Krisen geführt und gleichzeitig dafür gesorgt, dass die "Legislativtätigkeit" ihre ursprünglichen Ziele beibehält.

Ihre stark zentralisierte Arbeitsweise, ihr weitreichender Green Deal, ihre reflexartige Reaktion auf die Proteste der Landwirte und vor allem ihre erste Reaktion auf den Krieg zwischen Israel und der Hamas, bei der sie mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu die Hand schüttelte, galten einst als Hindernisse auf ihrem Weg zu einer zweiten Amtszeit.

Doch der überwältigende Sieg ihrer Mitte-Rechts-Partei, der Europäischen Volkspartei (EVP), bei den Wahlen im Juni, bei denen sie 190 Sitze errang, hat diese Bedenken beiseite geschoben. Von der Leyen hat bereits Verhandlungen mit den Sozialdemokraten und den Liberalen aufgenommen, um eine Koalition der Mitte für die nächsten fünf Jahre zu bilden, ohne die rechtsgerichteten Kollegen von Giorgia Meloni formell einzubeziehen.

Von der Leyen, die dem Europäischen Rat angehört, wird dem Gipfel am Montag beiwohnen, sich aber zurückziehen, sobald das Gespräch über die Spitzenpositionen beginnt. Sollte sie den Segen der Staats- und Regierungschefs erhalten, wird sie später im Europäischen Parlament unter die Lupe genommen, wo sie die Unterstützung einer Mehrheit der neu gewählten Mitglieder - 361 Stimmen – benötigt, um den Posten zu erhalten.

Im Vorfeld der Wahlen wurde in Brüssel viel über mögliche Alternativen zu von der Leyen spekuliert. Andere EVP-Vorsitzende wie der Kroate Andrej Plenković, der Rumäne Klaus Iohannis und der Grieche Kyriakos Mitsotakis wurden ebenso ins Gespräch gebracht wie Roberta Metsola, die derzeitige Präsidentin des Europäischen Parlaments.

Der ehemalige italienische Ministerpräsident Mario Draghi war ein weiterer Kandidat, der für die meisten Schlagzeilen sorgte. Doch das Angebot, das französischen Beamten weithin als Trick zugeschrieben wird, um von der Leyen Zugeständnisse abzuringen, war stets weit hergeholt: Draghi gehört keiner politischen Partei an und seine Ernennung würde den Prozess durcheinander bringen.

Europäischer Rat: António Costa

António Costa war früher Ministerpräsident von Portugal.
António Costa war früher Ministerpräsident von Portugal. - European Union.

Die Sozialisten und Demokraten (S&D) sind bei den Europawahlen mit 136 Sitzen auf dem zweiten Platz gelandet. Das Ergebnis dämpft ihre Ambitionen nicht.

Die Mitte-Links-Fraktion hat die Präsidentschaft des Europäischen Rates ins Visier genommen. Das ist ein Amt, das zwar keine legislativen Befugnisse hat, aber in Krisenzeiten, wenn die Staats- und Regierungschefs zu Dringlichkeitssitzungen zusammenkommen, um wichtige Entscheidungen zu treffen, besondere Bedeutung erlangt.

Der belgische Liberale Charles Michel, der dieses Amt derzeit innehat, kann nach zwei aufeinanderfolgenden Amtszeiten von 2,5 Jahren nicht wiedergewählt werden. Michels Führung hat zu Meinungsverschiedenheiten geführt: Sein gescheiterter Versuch, bei den Europawahlen Anfang des Jahres als Kandidat anzutreten, ging nach hinten los und zeigte die Gefahren auf, die mit der Ernennung eines relativ jungen (und ehrgeizigen) Kandidaten für die Leitung des Europäischen Rates verbunden sind.

Die Sozialdemokraten witterten eine Chance und schlugen den Namen eines Veteranen vor: António Costa. Der 62-jährige Politiker war zwischen 2015 und 2024 Portugals Ministerpräsident. Während seiner Amtszeit wurde Costa von seinen Amtskollegen wegen seiner konstruktiven Haltung und seiner zugänglichen Art sehr geschätzt.

Seine Amtszeit wurde jedoch im November 2023 beendet. Er trat zurück, nachdem mehrere Mitglieder seines Kabinetts der Korruption und der Einflussnahme bei der Vergabe von Konzessionen für Lithiumabbau, grünen Wasserstoff und Rechenzentren beschuldigt worden waren. Costa wird verdächtigt, einige dieser illegalen Geschäfte ermöglicht zu haben.

Kurz nach seinem Rücktritt räumte die Staatsanwaltschaft ein, in der Abhörprotokollierung den Namen von António Costa mit dem von Wirtschaftsminister António Costa Silva verwechselt zu haben. Dieser und andere Fehler haben das Gerichtsverfahren untergraben und bei Diplomaten in Brüssel den Eindruck erweckt, dass Costas Name letztendlich reingewaschen wird.

Sollten die EU-Staats- und Regierungschefs Zweifel haben, könnte die dänische Sozialistin Mette Frederiksen eine Alternative sein. Sie hat jegliches Interesse an einem Spitzenposten dementiert. Auch Mario Draghi wird für den Rat gehandelt, wo seine Seriosität von Vorteil wäre.

Hohe Vertreterin: Kaja Kallas

Kaja Kallas hat die EU dazu gedrängt, härtere Sanktionen gegen Russland zu verhängen.
Kaja Kallas hat die EU dazu gedrängt, härtere Sanktionen gegen Russland zu verhängen. - Virginia Mayo/Copyright 2023 The AP. All rights reserved.

Die liberale Familie von Renew Europe, die bei den Europawahlen von 102 auf 80 Sitze gefallen ist, möchte sich trotz ihres enttäuschenden Ergebnisses ebenfalls einen Spitzenposten sichern.

Die Sozialdemokraten konzentrieren sich auf den Rat und überlassen den Liberalen das Amt des Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik. Dieses Amt hat angesichts der globalen Krisen in der EU an Bedeutung gewonnen, doch seine Wirksamkeit wird durch das Einstimmigkeitsprinzip eingeschränkt.

Der derzeitige Inhaber des Amtes Josep Borrell ist ein überzeugter Sozialist, der die Diplomaten oft frustriert hat, weil er vom Drehbuch abwich und persönliche Standpunkte vertrat, die von den 27 Mitgliedstaaten nicht geteilt wurden.

Bei der Wahl seines Nachfolgers wird die Geografie der entscheidende Faktor sein. Da die Kommission und der Rat in West- beziehungsweise Südeuropa angesiedelt sind, sollte der Posten des Hohen Vertreters an einen Vertreter aus dem Osten gehen.

Das doppelte Kriterium des liberalen und des östlichen Europas schränkt die Liste der Kandidaten erheblich ein und rückt den estnischen Ministerpräsidentin Kaja Kallas in den Vordergrund. In den letzten zwei Jahren hat sich Kallas zu einer führenden Stimme in der Reaktion der EU auf Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine entwickelt. Sie drängte den Block, härtere Sanktionen gegen den Kreml zu beschließen und kritisierte westliche Verbündete, die ihre versprochene Munition an die Ukraine nicht lieferten.

Ihre Politik wurde einst als zu hart und baltisch orientiert angesehen, aber die brutale Realität des Krieges hat die Debatte zu ihren Gunsten verändert. Sie ist nun eine ernsthafte Anwärterin auf das Amt der nächsten EU-Außenpolitikchefin. Sollte sie ernannt werden, wird sie beweisen müssen, dass sie auch in anderen Regionen wie Afrika, dem Nahen Osten und Lateinamerika überzeugend auftreten kann.

"Sie ist für niemanden eine rote Linie", sagte ein Diplomat. "Die Position der Hohen Vertreterin wird weitgehend durch das Mandat der Mitgliedstaaten bestimmt."

Ein weiterer liberaler Kandidat ist der Belgier Alexander De Croo, der kürzlich als Ministerpräsident zurückgetreten ist, aber seine westeuropäische Herkunft könnte gegen ihn sprechen. Radosław Sikorski, ein ehemaliger Abgeordneter des Europäischen Parlaments, der jetzt als polnischer Außenminister fungiert und ein entschiedener Befürworter der Ukraine ist, passt in das Bild des Hohen Vertreters. Allerdings gehört er der EVP an, sodass seine Nominierung die Politiker zurück ans Reißbrett schicken würde.