Besondere Begabung - Julian (13) ist ein Glitzerkind – was das für ihn und seine Familie bedeutet

Ein Glitzerkind stellt eine Familie vor besondere Herausforderungen<span class="copyright">Getty Images</span>
Ein Glitzerkind stellt eine Familie vor besondere HerausforderungenGetty Images

Wenn eins der Kinder eine besondere Begabung hat, ist es für die Eltern nicht immer leicht, allen gerecht zu werden. Was es zu bedenken gilt, erklärt Pädagogin Stefanie Diekmann.

Wenn Julian (13) seinen Sportrucksack packt, hat er schon einen langen Schultag hinter sich – und noch viel vor sich. Während seine Geschwister Anne (10) und Lina (5) sich mit Freundinnen verabreden, kaut er an einem Müsliriegel und ruft ungeduldig: „Wer fährt mich heute?“ Lina brüllt: „Niemand! Ich will, dass Mama weiter mit mir Uno spielt!“ Schnell entspinnt sich ein Wortgefecht zwischen den Geschwistern.

Ohne das Ende der Diskussion abzuwarten, werden Anne und Lina angetrieben, sich zu ihren Freundinnen aufzumachen, damit Mama Heidi sich ins Auto setzen kann. Papa Sascha kann dienstags nie. Und ausgerechnet am Dienstag haben die Mädchen keine Termine und eigentlich Zeit zum Spielen und Zuhause-Sein. Draußen dreht sich Anne um und zwinkert Julian versöhnlich zu: „Viel Spaß! Heute kein Foul, okay?“

 

Ungleichgewicht durch Begabung

Julians Fußballbegabung ist in den letzten zwei Jahren immer mehr zum Thema in der Familie geworden. Mittlerweile trainiert er viermal pro Woche in einem Stützpunkt – zusätzlich zum normalen Training. Und die ersten Vereine von weiter weg haben schon angefragt, ob Julian zum Probetraining kommen möchte.

Eine Begabung, die viel Organisation und Einsatz verlangt. Eine Begabung, die zwischen den Geschwistern ein Ungleichgewicht herstellt. Nicht weil die Schwestern nicht begabt sind, sondern weil ihre Gestaltung des Alltags und ihre Entwicklung der Persönlichkeit alltagskompatibler sind. Natürlich haben Julians Schwestern auch Hobbys, diese sind allerdings nur ein wöchentlicher Termin ohne große Folgen für das Familienleben. Ein Termin, der die Eltern nicht herausfordert, über weitgreifende Entscheidungen nachzudenken. Julians Eltern grübeln viel über seine Begabung. Ist es nicht ihre Pflicht, diese zu fördern? Was würde in ihrer Beziehung zum Sohn passieren, wenn sie ihn nicht unterstützen?

Sascha war früher Handballer. Er kann sich noch an das Gefühl erinnern, seinen Eltern unwichtig zu sein. In seinen 12 Jahren Handball-Leidenschaft haben sie nie auf der Tribüne gesessen. Seine Frau Heidi versucht, diesen Schmerz als Antrieb für Julians Unterstützung zu verstehen und gleichzeitig den Blick auf alle zu weiten: Wie geht es Anne? Was empfindet Lina, wenn der Alltag so stark auf Julian ausgerichtet ist? Was empfindet Julian, wenn seine Schwestern Neid ausdrücken und die Eltern durch die Mehrbelastung angespannt sind?

Manchmal wird Lina weinerlich und klammert sich an Heidi. Nach einigen unschönen Szenen wird klar: Lina drückt so aus, dass ihr das Tempo zu hoch ist. Anne wird immer stiller und unsichtbarer. Sie hilft viel, ist verständnisvoll, räumt auf und es braucht viel Sensibilität, zu spüren: Das Kindliche verschwindet und ihre Bedürfnisse werden zurückgestellt.

Familien-Oasen

Die Eltern sind mehr und mehr zur Überzeugung gekommen, dass sie für alle drei Kinder Förderer sein wollen. Sie wollen bewusst hinsehen: Was beschäftigt unser Kind – unabhängig von Leistung und Leistungsbereitschaft? Und wie werden Werte, für die sie als Christinnen und Christen einstehen, sichtbar – in unseren Gesprächen, unserem Handeln und Gebeten? Was gelingt uns nicht und wo brauchen wir einander? Was, wenn Julians Begabung dazu führt, dass er fast keine Zeit mehr hat, in unsere Kirche zu gehen? Da ist Julian nun so ein Glitzerkind mit einer starken Begabung. Und es ist wie bei jeder Bastelarbeit mit Glitzerpulver: Alles andere bekommt Spuren vom Glitzer ab – unweigerlich.

Was hilfreich ist: Die Eltern planen immer wieder Oasen als gesamte Familie, in denen das Thema Fußball keine Rolle spielt. Das kann ein Schwimmbadbesuch sein. Oder ein Kochduell, bei dem die jüngste Schwester wegen des tollen Namens ihrer Punsch-Erfindung gewinnt. Und wenn es kracht oder der Alltag ein zu hohes Tempo hat, gibt es gemeinsame Gespräche am Tisch: Was brauchen wir als Familie, um gut miteinander leben zu können? Nach den ersten Monaten des Stützpunkttrainings wurde der Tonfall in der Familie immer gereizter und liebloser.

Bei einem Spaziergang wurde den erschöpften Eltern klar: Wir brauchen ein Unterstützernetzwerk – Menschen, die Julian fahren. Andere, die mal ein Abendbrot sicherstellen, wenn sowohl Sascha als auch Heidi bei einem Elterngespräch benötigt werden. Oder eine Anlaufstelle für die Mädchen, wenn mal niemand zu Hause ist. Erst schien es fast aussichtlos. Aber nach und nach trauten sich Sascha und Heidi, offener mit ihrer Suche zu sein. Der Opa blühte im Gespräch mit Julian auf. Für ihn sind die Zeiten im Auto keine Belastung – im Gegenteil. Den gelegentlichen Abendbrotdienst übernahm Dagmar, eine alleinstehende Frau aus der Gemeinde. Natürlich war es zunächst fremd, seinen Kühlschrank jemandem außerhalb der Familie anzuvertrauen. Aber Dagmar gehörte mit ihren Rezepten aus einer anderen Generation bald zum Familieninventar.

Das Loben neu lernen

Neben all den praktischen Themen wurde auch klar, dass Leistung ein sensibles Thema ist. Natürlich muss sich Julian anstrengen, seine Fitnessübungen machen und ja, ein Sieg ist großartig. Den zerknirschten Sohn liebevoll anzusehen, wenn die Mannschaft wegen seines Fehlpasses verloren hat, war für den sportbegeisterten Sascha zuerst eine Herausforderung. Gerade Anne möchte von ihren Eltern oft hören und spüren, wo sie richtig gut ist. Was sie kann. Wo sie sichtbarer ist als ihr Bruder.

Die Balance zwischen dem Kleinreden von sportlichen Erfolgen – was Julian schmerzt – und dem Überhöhen der Flötenaufführung – was Anne sofort als Fake spürt – ist für Heidi besonders schwer. Sie musste das Loben neu lernen. Wem bringt ein „Gut gemacht!“ etwas? Will sie nicht eher vermitteln, dass alle von Gott Gesehene sind? Genau hinzusehen und nicht einfach kurz zu loben, hat das Bewusstsein für den anderen verändert.

Manchmal ist es nötig, im Auto vor dem Haus der Großeltern zu sagen: „Ihr wisst: Opa liebt Fußball und wir werden heute viel darüber reden!“ Lina nickt dann und sagt: „Ich weiß – heute ist Julians Glitzer-Stunde. Ist okay!“ Aber das Glitzerkind ist nicht mehr nur noch Julian, sondern jeder in der Familie schimmert schön!

Stefanie Diekmann ist Pädagogin und arbeitet als Gemeindereferentin in Göttingen. Sie hat drei erwachsene Kinder.

Von Stefanie Diekmann