Deutschland fällt beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf zurück: In einem der Gründe liegt eine große Chance für mehr Wohlstand

Deutschland fällt bei der Wirtschaftsleistung pro Kopf zurück.  - Copyright: Picture Alliance
Deutschland fällt bei der Wirtschaftsleistung pro Kopf zurück. - Copyright: Picture Alliance

Deutschland steckt fest. Die Wirtschaft stagniert im fünften Quartal – bestenfalls. Wahrscheinlich schrumpft das Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2023 sogar. Auch im internationalen Vergleich schneidet Deutschland schlecht ab. Als einziges Industrieland kämpft die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt noch immer darum, wieder das Niveau vor der Corona-Krise zu erreichen. Deutschland steckt nicht nur fest, es fällt zurück.

Das gilt umso mehr, weil gleichzeitig die Bevölkerung wächst. Aktuell leben in der Bundesrepublik 84,5 Millionen Menschen. So viele waren es noch nie. Vor Corona waren es noch 1,3 Millionen weniger. Die Bevölkerung ist heute um fast zwei Prozent größer. Auch die Zahl der Beschäftigten hat– allen Krisen zum Trotz – mit 46 Millionen einen Rekord erreicht. Nie hatten so viele Menschen in Deutschland Arbeit.

Eigentlich müssten mehr Beschäftigte und mehr Verbraucher für Wachstum sorgen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die folgende Grafik zeigt die Veränderung der Wirtschaftsleistung von Quartal zu Quartal. Der blaue Balken zeigt die Veränderung des gesamten BIP. Die gelben Balken zeigen das BIP je Kopf.

Das BIP pro Kopf gilt als wichtige Messgröße für den Wohlstand eines Landes. Deutschland stieg nach dem Krieg zu den größten Volkswirtschaften und zu den reichsten Ländern der Welt auf. Die folgende Grafik zeigt die wohlhabendsten großen Industrienationen und wie sich die Reihenfolge seit 1991 verändert hat.

In dieser Gruppe der großen Industrieländer (G-20) hat Deutschland seine Position etwa behauptet.

Etwas anders sieht es aus, wenn man alle Länder betrachtet, also auch kleinere Volkswirtschaften. Hier zählen Luxemburg und die Schweiz traditionell zu den Ländern mit dem höchsten BIP pro Kopf. Gerade viele mittelgroße Länder Europas sind aber an Deutschland vorbeigezogen. Allen voran Irland, das durch die Großinvestitionen vieler US-Tech-Konzern zum zweitwohlhabendsten Land in der EU geworden ist. Auch der wachsende Wohlstand von Asien bis zu den Ölstaaten und Israel im Nahen Osten wird deutlich.

In den Top-20 zählt Deutschland zu den reichsten Ländern der Welt, aber nicht mehr zur absoluten Spitze.

Warum fällt Deutschland beim BIP pro Kopf zurück?

In Deutschland geht die Schere zwischen der Wirtschaftsleistung insgesamt und pro Kopf auf. Das verdeutlicht noch einmal diese Grafik:

Dahinter stecken zwei Faktoren, das schwache Wachstum und das starke Wachstum der Bevölkerung. Warum ist das Wirtschaftswachstum aktuell so schwach:

Die Produktivität sinkt. Mitte des Jahres waren in Deutschland fast 46 Millionen Menschen erwerbstätig. Das waren gut 300.000 Personen oder 0,7 Prozent mehr als vor einem Jahr. Die Zahl der Arbeitsstunden stieg in ähnlichem Ausmaß. Nur kam weniger dabei heraus. Auch pro Erwerbstätigen oder pro Arbeitsstunde gerechnet, ging die Wirtschaftsleistung stärker zurück als die milde Rezession es hätte vermuten lassen.

Deutschlands Geschäftsmodell bröckelt: Deutschland ist ein Exportland. Ein hoher Anteil des Einkommens entsteht, in dem Deutschland mehr Güter ins Ausland verkauft als es dort einkauft. Deshalb ist das Verhältnis der Exportpreise zu den Importpreisen wichtig – die Terms of Trade. Als Energie teurer wurde, verschlechterten sich das Tauschverhältnis. Um die hohe Energierechnung zu bezahlen, musste Deutschland mehr andere Güter verkaufen. Inzwischen haben sich die Terms of Trade normalisiert. Aber das Exportmodell hat Schaden genommen.

Das gilt darüber hinaus für das gesamte deutsche Wirtschaftsmodell. Es konnte vereinfacht so beschrieben werden: Energie kam billig aus Russland, für das Wachstum sorgten Exporte nach China, und für die Sicherheit zahlten die USA. Deutschland muss sich neu erfinden, zumindest stark anpassen – auch an die Herausforderungen des Klimawandels, der Digitalisierung und der Veränderungen in der Geopolitik.

Wachstum der Bevölkerung: Zuwanderung als Chance

Das wirkliche Problem für Deutschlands Wohlstand ist darum nicht aktuelle Schwäche der Konjunktur. Die geht vorbei. Das Problem ist, dass Deutschlands Wachstumspotenzial abgenommen hat. Es beschreibt, wie stark die Wirtschaft wachsen kann, wenn alle Kapazitäten ausgelastet werden. Dies werden von drei Faktoren bestimmt: Investitionen in den Kapitalstock (Maschinen, Anlagen, Software, Infrastruktur), Produktivität und Arbeitseinsatz, also im Wesentlichen die Zahl der Arbeitskräfte.

Gerade erst haben Ökonomen Alarm geschlagen, dass diese Wachstumskräfte schwinden. Viele Jahre wuchs das Potenzial um rund 1,3 Prozent im Jahr. Aktuell halbiere es sich auf 0,6 Prozent, warnen die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute. Ein wichtiger Grund ist, dass zu wenig in neue Kapazitäten investiert werde. Der andere wichtige Grund ist der Mangel an Arbeitskräften.

Denn obwohl in Deutschland mehr Menschen wohnen, reißt am Arbeitsmarkt eine Lücke auf. Das liegt an der demografischen Entwicklung. Jahr für Jahr scheiden mit den geburtenstarken Jahrgängen mehr Menschen aus dem Arbeitsmarkt aus, als jüngere neu in den Beruf starten. Das hat zwei Folgen: Auf dem Arbeitsmarkt fehlen Arbeitskräfte. Schon jetzt können Firmen 46 Prozent ihrer Stellen für Fachkräfte nicht besetzen. Zum zweiten kippt das Verhältnis zwischen aktiv Beschäftigten und Menschen in Rente. Der Anteil der Menschen über 65 Jahren ist in Deutschland seit 1950 von zehn Prozent auf aktuell 22 Prozent gestiegen. Tendenz stark steigend.

Hier liegt die Chance in der zuletzt wachsenden Bevölkerung. Der Grund dafür ist die Zuwanderung, oft jüngerer Menschen, zuletzt aus der Ukraine. Die Entwicklung in Stufen zeigt diese Grafik.

Die Jahre des Wirtschaftsbooms nach dem Weltkrieg ging mit einer wachsenden Bevölkerung einher. Mit dem Knick in der Entwicklung flachte auch das Wachstum ab. Jetzt wächst die Bevölkerung, doch das Wachstum fehlt. Ein Grund ist auch, dass viele Geflüchtete hier gar nicht oder nur eingeschränkt arbeiten dürfen.

Zuwanderung birgt neben Risiken und Herausforderungen auch Chancen. Auch um sie besser zu nutzen, wird debattiert, Geflüchteten die Aufnahme von Arbeit zu erleichtern – und mehr in die Bildung zu investieren. Mit der wachsenden Bevölkerung hat in Deutschland nämlich auch die Zahl der jungen Menschen zugenommen. Auch das ein Chance für ein aus sich selbst alterndes Land.

„Wir sind ein Einwanderungsland geworden. Das müssen wir realisieren und Antworten auf die Frage finden, wie wir die zu uns gekommenen Menschen in Arbeit bringen“, sagt der Chef der Unternehmensberatung Simon-Kucher, Andreas von der Gathen. In der Zuwanderung liege für Deutschland eine große Chance, wenn es gelingt, die Zuwanderer auch in den Arbeitsmarkt zu integrieren und endlich mehr in die Bildung zu investieren.

Mehr Menschen in Arbeit zu bringen und die Produktivität der Arbeit wieder zu steigern, ist die große Herausforderung. Nur dann wächst auch das Potenzial der deutschen Wirtschaft wieder – und damit das BIP pro Kopf.