Kommentar: Lützerath wird nicht zum Hartz IV der Grünen

Polizisten drängen in Lützerath Demonstranten zurück, die gegen eine Räumung des Vom  Kohleabbau bedrohten Dorfes protestieren (Bild: REUTERS/Christian Mang)
Polizisten drängen in Lützerath Demonstranten zurück, die gegen eine Räumung des vom
Kohleabbau bedrohten Dorfes protestieren (Bild: REUTERS/Christian Mang)

Schwere Tage für die Grünen: Eigentlich würde man am liebsten mit der Basis in Lützerath gegen die Braunkohle demonstrieren. Aber die politische Vernunft hält davon ab. Eine Zerreißprobe wird das für die Partei nicht: Die Latte-Macchiato-Fraktion lässt das kalt. Die Herausforderung kommt aus einer ganz anderen Ecke.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Es soll in Lützerath ziemlich matschig sein. Da wird der klassische moderne Grünenwähler sich nicht – mehr – die Schuhe schmutzig machen. Dieses Feld überlässt er den Aktivisten.

Vielerorts ist von einem echten Problem für die Grünen die Rede: Es ist ja auch komisch, wenn sich ein, zwei Großkopferte der Partei in Lützerath unter die Proteste gegen die Räumung des Dorfes mischen, welche ihre eigene Partei mit beschlossen hat. Eindeutiger, klarer und verständlicher ist da Wirtschaftsminister Robert Habeck, der diese Entscheidung der Räumung offensiv verteidigt.

Letztlich kristallisiert sich schon jetzt heraus, dass Lützerath für die Grünen kein Waterloo wird. Keine Pestbeule wie Hartz IV für die SPD. Zu sehr sticht hervor, dass es sich um einen politischen Kompromiss handelt, bei dem alle Seiten gaben und nahmen. Perspektivisch haben die Grünen relativ viel genommen: Mittelfristiges Aus der Kohle, der Erhalt anderer Dörfer. Und gegeben: ein Minidorf, das eigentlich leider keines mehr war. Den Aktivisten bleibt die Symbolik, der Widerstand der Natur gegen die Bagger mit Bildern, wie sie schärfer und kontrastreicher kaum sein können. Nur lichtet sich Politik zum Glück eher in Unschärfen ab, und Schwarz-Weiß eignet sich selten für die Organisation des Alltags. Da fährt man mit Grau im Zweifel immer besser.

Die Kunst, wie man alle mitnimmt

Dennoch ist der Kohlekompromiss für die Grünen eine Entscheidung des Kopfes, nicht des Herzens. Das heißt nicht, dass die Demonstranten von Lützerath kopflos wären und nur dem gefühligen Herz folgten. Sie stehen in einer Konsequenz für den Klimaschutz, die ihre Notwendigkeit jeden Tag neu beweist. Nur ist es eine Sache mit der Umsetzung von Konsequenzen aus solchen Notwendigkeiten.

Auch sind die Demonstranten längst nicht mehr die Kernklientel der Grünen. Einige werden andere Parteien wählen, andere gar nicht. Die Grünen als quasi Volkspartei sind mittlerweile dort zuhause, wo einem beim Gedanken übers Gerenne über nasse Äcker im Winter ein kurzer Schauer über den Rücken zieht und man daher schnell an anderes denkt. Der wohlige Mittelstand macht beim Aktivismus nicht mit. Der Latte Macchiato könnte ja kalt werden. Das ist nicht zynisch, sondern auch eine Lebenseinstellung. Diese unterschiedlichen Haltungen müssen die Grünen als Partei aushalten, das können sie auch. Aber sie müssen dafür gründlich aufpassen.

Denn bei allen guten Argumenten, die für eine Aufgabe von Lützerath sprechen: Das Herz verlegt die Grünenspitze besser nicht.

Aus Märchen lernen

Sollten Management und Macchiato (ein blöder Chiffre, ich weiß, aber ein passender) in der Partei überhand nehmen, wird es nichts mit dem Konzept Volkspartei. Denn die Jungen, die Linken, die konsequenten Umweltschützer – all die müssen mitgenommen werden. Sonst erwächst den Grünen, was der SPD mit PDS, WASG und Linkspartei erwachsen ist. All den Lützerahnern muss eine Perspektive vermittelt werden, warum trotz allem die Grünen eine Partei sind, an der sie festhalten wollen. Das geht nicht ohne Herz. Sollten Habeck & Co sich zu sehr von Andersens Schneekönigin einlullen lassen und sich auf die Suche nach eigener Herrschaft begeben, werden sie vergeblich Eisplatten legen und niemals am Ziel ankommen.

Gelingt der Spagat, entsteht tatsächlich eine neue Volkspartei. Denn die Einsicht in einen Widerstand gegen den Naturuntergang wächst allerorten. Kommt es aber beim Spagat zu Verrenkungen, werden die Grünen rasch wieder zu anderen Wurzeln zurückkehren und die Fünf-Prozent-Hürde im Nacken spüren.

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