Kommentar: Rede in Orbán-nahem Institut – was Boris Palmer in Ungarn sagen sollte

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer ist von einem Institut in Ungarn eingeladen – es ist eine "Denkfabrik" des rechtspopulistischen Ministerpräsidenten. Natürlich kann er dort reden – aber wenn Boris Palmer sich wirklich als kritischen Geist sieht, sollte er das Umfeld dort angehen.

Boris Palmer ist aktuell in Ungarn unterwegs - was bei vielen für Unverständnis sorgt. (Bild: Bernd Weißbrod/picture alliance via Getty Images)
Boris Palmer ist aktuell in Ungarn unterwegs - was bei vielen für Unverständnis sorgt. (Bild: Bernd Weißbrod/picture alliance via Getty Images)

Ein Kommentar von Jan Rübel

"Immer Ärger mit Boris", das ist ein Klassiker. Im Südwesten wird er regelmäßig aufgeführt, denn Tübingens Oberbürgermeister ist dafür bekannt, dass er manisch aneckt. Und mit dieser Pathologie schafft er entsprechende Aufmerksamkeit.

Würde ansonsten ein Stadtoberhaupt einer nicht einmal 100.000 Einwohner zählenden Mittelstadt (Platz 91 in Deutschland) irgendeine überregionale Aufmerksamkeit damit erzielen, wenn es im befreundeten Ausland an einer Bildungseinrichtung einen Vortrag hält? Selbst an regionalem Interesse würde es hapern.

Aber in diesem Fall geht es eben um Boris Palmer und Victor Orbán. Diese Mischung wirkt wie ein Extraschuss Gin in den Negroni. Denn der eine sucht die Lücke im Mainstream wie ein Bär den Honig, und der andere streamt gerade sein Land in seinem Sinne um, schafft einen ganz neuen Konsens – nämlich seinen eigenen.

Klar, dass man da hinschaut

Nun wurde Boris Palmer, der als Bürgermeister in Ungarn eine normale Auslandsreise absolviert, von einer Wissensinstitution eingeladen. Das Budapester Mathias-Corvinus-Collegium (MCC) ist eine selbst ernannte Kaderschmiede. Dort soll Palmer eine Rede halten, und zwar "Über die grüne Grenze". Es soll wohl um die Rolle der Grünen gehen, wie sie Deutschlands Probleme lösen können; immerhin war Palmer jahrelang in der Partei aktiv. Nun aber regt sich Mancher auf: Der solle dort nicht reden. Warum nicht?

Auch der umstrittene US-Fernsehmoderator Tucker Carlson sprach schon am Mathias Corvinus Collegium. (Bild: Janos Kummer/Getty Images)
Auch der umstrittene US-Fernsehmoderator Tucker Carlson sprach schon am Mathias Corvinus Collegium. (Bild: Janos Kummer/Getty Images)

Das MCC ist nicht irgendeine Einrichtung. Es wird wie keine andere Wissensinstitution in Ungarn vom Staat gepimpert. Orbán hat dafür gesorgt, dass der so genannte "Thinktank" über ein Stiftungskapital verfügt, das nach Angaben des "Tagesspiegel" mit 1,5 Milliarden Euro größer ist als das Jahresbudget aller universitären Einrichtungen in Ungarn. Und Vorsitzender des Stiftungsrats ist der politische Direktor des Ministerpräsidentenamtes.

Warum? Weil Orbán, der Langzeitherrscher, sein Land nach seinem Sinne umbaut. Im MCC wird gelehrt, was ihm gefällt. Und es wird nicht gelehrt, was ihm nicht gefällt. Wissenschaft nach politischer Vorgabe. Denn Wissen ist Macht, und nichts anderes hat Orbán im Kopf. Außer vielleicht ein bisschen Ideologie, aber die dient in erster Linie wieder seinem Machterhalt: Ausschaltung politischer Rivalen und Alternativen, Schaffung äußerer Gegner wie die EU oder "Migranten". Orbán wäre ein Liberaler, wäre er in der Opposition. Weil er aber seit geraumer Zeit an den Schalthebeln sitzt, ist er antiliberal. So schlicht wie banal ist diese Story.

Wird etwas bestellt?

Sollte Palmer bei so etwas reden? Natürlich sollte er das können. Das MCC existiert ja. Klar, es existiert, um den rechtspopulistischen Schmalz von Orbán als angebliche Vision für Europa zu transportieren. Und während die anderen, vor allem staatlichen Wissenschaftsorganisationen in Ungarn kleingehalten werden, expandiert das MCC und zieht kraft Masse und Geld die Schlauen an – das ist das Kalkül des Schmückens mit fremden Federn, die dann auch noch entsprechend durchgewalkt werden. Aber das MCC ist mittlerweile ein Fakt.

Daher kann Palmer dort reden. Wissenschaft lebt vom Austausch, von kritischer Rede und Widerrede. Ausschluss, Boykott und Sanktion verhalten sich generell schlecht damit. Also sollte Palmer ruhig hinfahren.

Nur was wird er sagen?

Das MCC freut sich offensichtlich auf eine Menge Krisenstimmung. "Die Krisen unserer Zeit zeugen davon, dass sich Europa und die Welt genauso wie Deutschland in einem Paradigmenwechsel befinden", schreibt es auf seiner Website mit Blick auf die Palmer-Rede. "Deutschlands Wirtschaft schwächelt, die Ströme illegaler Migration nach Deutschland reißen nicht ab, und ein immer größerer Teil der Gesellschaft sorgt sich um das eigene Wohlergehen und die öffentliche Sicherheit."

Uiuiui, das klingt nach Grabesstimmung. Und nach dem dann zwangsläufigen Ruf nach einem Retter. Leider ist Palmer ein gebranntes Kind. Kürzlich wurde er zu einer Wissenskonferenz über Migration eingeladen – obwohl er dazu als Allrounder nun wirklich kein Experte ist. Das ging schief. Was sind die Motive nun? Erhofft sich das MCC ein Grünen-Bashing, eine Seligsprechung des feindlichen ungarischen Regierungskurses gegenüber allen Fliehenden?

Mehr zu dem Vorfall lesen Sie hier: Lieferte Boris Palmer, was man bei ihm bestellte?

Wie wäre es mal mit einer echten Überraschung?

Palmer versteht sich ja als kritischer Geist. Er könnte den Ort nutzen, um dort als kritischer Geist zu wirken. Also nicht, um den Beifall des rechtspopulistischen und antiliberalen Publikums zu erheischen, sondern jenem selbst den Spiegel vorzuhalten: Wie wäre es, wenn Palmer die Beschneidung der Wissenschaftsfreiheit in Ungarn anspricht? Wenn er kritisiert, dass wichtige Debatten nicht mehr geführt werden sollen? Oder wenn er geißelt, dass Bücher, die von gewissen heterosexuellen Normen abweichen, im Verkauf behindert werden?

Der angeblich freie Geist wird in Ungarn durch Typen wie im MCC beschnitten. Empfindet sich Palmer wirklich als frei, sollte er sich fühlen, als begäbe er sich in den Vorhof zur Hölle. Dann wird er entsprechend reden. Oder ist er in Wirklichkeit ein Getriebener? Man darf gespannt sein.

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