Krise der Grünen - Vorbild Sekmen: Verlassen die Grünen-Abgeordneten das sinkende Schiff?

02.07.2024, Berlin: Friedrich Merz (r.), Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, begrüßt Melis Sekmen als Gast in der Sitzung der Bundestagsfraktion der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag. Die bisherige Grünen-Bundestagsabgeordnete Sekmen aus Mannheim will in die CDU eintreten.<span class="copyright">Bernd von Jutrczenka/dpa</span>
02.07.2024, Berlin: Friedrich Merz (r.), Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, begrüßt Melis Sekmen als Gast in der Sitzung der Bundestagsfraktion der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag. Die bisherige Grünen-Bundestagsabgeordnete Sekmen aus Mannheim will in die CDU eintreten.Bernd von Jutrczenka/dpa

Die Bundestagswahl 2025 naht und das führt zur Unruhe bei den Grünen. Mit Melis Sekmen wechselt nun die erste Abgeordnete zur CDU. Ob dies ein Trend werden kann und welche Überlegungen dabei wirklich eine Rolle spielen, erläutert Sozialforscher Andreas Herteux.

Warum steht es überhaupt so schlecht um die Grünen?

Simplifiziert zusammengefasst, profitierten die Grünen seit den 2010ern vom Zeitgeist, der es zuließ, dass postmaterielle Positionen und Systemwandlungsvorstellungen sehr einfach, was letztendlich ein intellektuelles Armutszeugnis für Konservativismus und Liberalismus darstellt, über die Universitäten in die Medien und die Gesellschaft einsickern konnten. Der Begriff „Linksruck“ ist an dieser Stelle zwar inhaltlich falsch, fasst das Phänomen aber als vereinfachendes Schlagwort gut zusammen und bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung.

Der dadurch erzeugte Widerstand in verschiedenen Lebenswirklichkeiten der Gesellschaft wurde dagegen kaum wahrgenommen, teilweise marginalisiert, bekam keine größere Bühne und staute sich über Jahre auf, bis er sich schließlich in Milieukämpfen entladen konnte, die wesentlich zur heutigen Zersplitterung oder auch zum Aufstieg der AfD beigetragen haben. Oder einfacher gesagt: Man hat die Bedürfnisse vieler Menschen viel zu lange ignoriert und das hat seinen Anteil am Vertrauensverlust in die etablierte Politik.

Hinzu kam, dass die Ampel, die auch die   Transformationsbereitschaft der Bevölkerung über- sowie diverse Einflussfaktoren unterschätzte, bei dem Versuch das Land auf Basis besagter Positionen zu gestaltet, keine Erfolgsbilanz aufweisen kann.

Auch durch dieses realpolitische Scheitern hat sich der Zeitgeist nun gegen postmaterielle- sowie wandlungsorientierte Inhalte gewendet und damit auch gegen die Grünen, die als federführend in der Regierung wahrgenommen werden.

Oder wie es Robert Habeck ausdrückte: „Die einzige Antwort, die ich geben kann, ist, dass ich so sehr im Fokus war, fossile Energie einzusparen, dass ich nicht gesehen habe, wie sich die mentale Haltung im Land schon wieder woanders hinbewegt hat.“

Die Grünen haben allerdings so viele Kernwähler, dass ein totaler Absturz unwahrscheinlich erscheint. Diese rekrutieren sich überwiegend aus dem post-materiellen Milieu (ca. 12 Prozent der Bevölkerung) und werden durch die neo-ökologische Lebenswirklichkeit (ca. 8 Prozent) ergänzt. In vielen anderen Milieus spielen sie dagegen anteilig eine sehr viel kleinere Rolle. Diese Stammwähler sollten der Partei immer ca. 8 Prozent der Stimmen auf Bundesebene garantieren. Die Grünen werde daher nicht vollkommen abstürzen, aber die Tendenz geht, nach heutigem Stand dahin, dass weder die kommenden Landtagswahlen noch die Bundestagswahl 2025 sonderlich positiv verlaufen werden.

Welche Gründe haben für den aktuellen Wechsel der Bundestagsabgeordneten Melis Sekmen zur CDU eine Rolle gespielt?

Für den bevorstehenden Partei- und Fraktionswechsel sind am Ende mehrere Ebenen zu betrachten. Die inhaltlichen, die individuell-karrieretechnischen, aber auch die parteitaktischen.

Inhaltlich betont Melis Sekmen, dass sie sich inzwischen mit dem CDU-Grundsatzprogramm identifizieren würde. Es scheint daher Zweifel an manchem grünen Inhalt zu geben. Zudem kritisiert sie, das mag auch eine Interpretation sein, indirekt die Art und Weise der thematischen Auseinandersetzung in ihrer früheren Partei, in dem sie allgemein darauf verweist, dass „unbequeme Realitäten“ auch dann benannt werden sollten, wenn sie nicht zur „politischen Erzählung“ passen würden. Dieses präzisiert Sekmen mit der Aussage, dass es einer Debattenkultur bedarf, die „Menschen für ihre Meinung oder Sorgen nicht in Schubladen steckt“.

Auf der karrieretechnischen Ebene spielt die besondere Konstellation im Wahlkreis wohl eine nicht zu kleine Rolle. Seit mehreren Legislaturperioden wurde dieser, im Rahmen der Bundestagswahl, immer von einem CDU-Politiker gewonnen. 2017 war dies Nikolas Löbel, der sich im Rahmen der „Maskenaffäre“ aus der Politik zurückgezogen hat.

Beim anschließenden Urnengang 2021 fiel die CDU auf den dritten Rang im Kreis zurück. Den zweiten Platz belegte Melis Sekmen, was grundsätzlich ein sehr starkes Ergebnis für eine grüne Kandidatin darstellt.

Augenscheinlich ist nun, dass es in dem Wahlkreis momentan keinen, nennen wir ihn, „CDU-Platzhirschen“ gibt, der Nominierungsansprüche stellen kann und die Politikerin wohl gute Chancen hätte, für 2025 nominiert zu werden. Insgesamt wirken auch die Aussichten für den Wiedereinzug in den Bundestag für Sekmen, die laut Selbstauskunft auf den Seiten des Bundestages, über keine abgeschlossene Ausbildung oder ein absolviertes Studium verfügt, bei den Christdemokraten besser als sie es womöglich bei den Grünen, die im Moment in einer negativen Entwicklung sind, gewesen wären.

Ähnliche Überlegungen wird es auch in der CDU gegeben haben, denn es fehlt in Mannheim im Moment an einem sogenannten „Zugpferd“ und die ehemalige Grüne würde voraussichtlich auch noch Wähler aus bestimmten Milieus, beispielsweise den migrantischen, mitbringen, die für die Christdemokraten in anderen Konstellationen schwieriger zu erreichen sind.

Auf dem Papier klingt dies nach einer Situation, in der es viele Gewinner geben könnte. Ob sich Melis Sekmen parteiintern am Ende wirklich durchsetzen wird, steht wiederum auf einem anderen Blatt.

Wie hat die Partei auf den Übertritt reagiert und stellt sie diese Forderung mit Recht?

Die Grünen sind über den Vorgang selbstverständlich nicht erfreut. Er kam wohl auch unerwartet, denn mehrere Mitglieder, darunter auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann, haben inzwischen verlauten lassen, von dem Vorgang überrascht gewesen zu sein.

Der ehemalige Kreisverband von Melis Sekmen in Mannheim hat sie inzwischen aufgefordert, das Bundesmandat niederzulegen, damit ein neuer grüner Vertreter platziert werden kann. Man könnte an dieser Stelle selbstredend argumentieren, dass die Stimmen bei der letzten Bundestagswahl nicht der Kandidatin, sondern der Partei und deren Inhalten galten, aber das ist alles letztendlich irrelevant, denn allen handelnden Personen ist bewusst, dass es keine Niederlegung geben wird.

Muss es auch nicht, denn das Mandat mag über eine Parteiliste errungen worden sein, es bleibt aber ein freies, d.h. der Abgeordnete ist nach dem Grundgesetz nicht an bestimmte Aufträge aus dem Kreisverband oder gar der Parteizentrale gebunden, sondern ausschließlich seinem Gewissen verpflichtet.

Im Normalfall wird der Volksvertreter und hier schlägt die Realität das Ideal, besagtes Gewissen genau hinterfragen, wenn er später erneut einen guten Listenplatz erhalten möchte, in der konkreten Konstellation ist dies aber, aus Sicht von Melis Sekmen, augenscheinlich nicht von Nöten.

Ist es zu erwarten, dass aus dem Einzelfall ein Exodus für die Grünen wird?

Grundsätzlich kommen Parteiaustritte von Bundestagsabgeordneten immer wieder einmal vor. In der aktuellen Legislaturperiode sind es bislang 16, wobei primär die Linken und die AfD betroffen waren. Einige blieben dauerhaft parteilos, der größte Teil findet aber schnell eine neue politische Heimat.

Das wirkt auf den ersten Blick wie eine Steigerung im Vergleich zu früheren Zeiträumen, hängt aber hauptsächlich mit dem Bündnis Sarah Wagenknecht, das sich von der Linkspartei abgespalten hat, zusammen. So wurde zugleich auch die Fraktion aufgelöst. Ein grundsätzlicher Trend ist daraus daher nicht abzuleiten.

Was spezifisch die Grünen betrifft, wird es keinen großen Exodus geben. Wohin auch? Letztendlich ist davon auszugehen, dass die Abgeordneten auch von ihren Inhalten und ihrer Politik, die sie mitgetragen haben, überzeugt sind und daher bei anderen Parteien begrenzt anschlussfähig sein dürften. Günstige Konstellationen mit Karriereperspektive, wie sie sich im Fall Sekmen finden, gibt es zudem selten und die Legislaturperiode endet bereits im nächsten Jahr.

Vielmehr ist zu erwarten, dass sich der innerparteiliche Kampf um die Nominierungen und besten Listenplätze bei den Grünen noch Ende 2024 intensiveren wird, da ein suboptimales Wahlergebnis zu erwarten ist. Aufgrund dessen mag es dann enttäuschte Hoffnungen geben, die dazu führen, dass sich manch ambitionierter Parteigenosse eine neue politische Heimat sucht. Darin ist allerdings nichts Ungewöhnliches zu sehen. Es ist Politik, bleibt Politik und wird auch immer Politik sein.

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