Landratsamt verschickte Kündigungen - „Machen uns Sorgen“: Nach Rauswurf aus Wohnungen wird Lage für Ukrainer brenzlig

Ankunft in Berlin: Flüchtlinge aus der Ukraine treffen im Frühjahr 2022 ein.<span class="copyright">Foto: IMAGO/Funke Foto Services/IMAGO/Reto Klar</span>
Ankunft in Berlin: Flüchtlinge aus der Ukraine treffen im Frühjahr 2022 ein.Foto: IMAGO/Funke Foto Services/IMAGO/Reto Klar

Der Erzgebirgskreis wirft Ukrainer aus Gewährswohnungen, um Platz für andere Asylbewerber zu schaffen. Der Flüchtlingsrat kritisiert das Vorgehen scharf.

Das unheilvolle Schreiben lag am 1. Juni im Briefkasten der ukrainischen Familie. Innerhalb von sechs Wochen, bis zum 15. Juli, sollen sie ihre Wohnung im Erzgebirgskreis verlassen und eine neue Bleibe finden. „Das ist in Deutschland nicht möglich“, sagt Maria (Name geändert) angesichts der Frist zu FOCUS online.

Rund 1000 vor dem Krieg geflüchtete Ukrainer haben in den vergangenen Monaten ähnliche Post vom Landratsamt Erzgebirgskreis erhalten. Sie leben aktuell in sogenannten Gewährswohnungen, die die Verwaltung für Asylsuchende angemietet hat. Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine fallen allerdings nicht darunter, sie sind mit Bürgergeldempfängern gleichgestellt. Deshalb sind die Gewährswohnungen nicht für sie gedacht.

Ukrainer: „Wir brauchen mehr Zeit“

Formal ist das Vorgehen des Landkreises also korrekt. Für viele Ukrainer kam die Aufforderung dennoch überraschend. Maria und ihre vierköpfige Familie leben inzwischen seit zwei Jahren in der Wohnung. Die Kinder gehen in der Nähe zur Schule, die Eltern besuchen Sprachkurse; die Familie hat hier Fuß gefasst. Nach Alternativen hat sie gesucht, doch fündig wurde sie nicht. „Wir haben eine Wohnung besichtigt. Aber die müsste renoviert werden – und das braucht Zeit“, sagt Familienvater Vitali (Name geändert).

Zeit, die die Familie nicht hat. Auch bürokratische Hürden erschweren eine schnelle Wohnungssuche, wie eine Helferin erklärt. Denn erst müsse das Jobcenter die neue Wohnung genehmigen. Dann folge der Antrag für das Kautionsdarlehen und erst wenn der Mietvertrag unterschrieben sei, könne ein Antrag für die Ausstattung der Wohnung gestellt werden.

Ukrainer werden von den Behörden „relativ allein gelassen“

Die Möbel dürften außerdem erst angeschafft werden, wenn der Antrag bewilligt ist. „Die Ukrainer mussten teils in leere Wohnungen ziehen“, erzählt sie. Erst nach ein bis zwei Wochen hätten sie mit dem Einrichten beginnen können. Die Wohnungssuche selbst sei daher gar nicht unbedingt das Problem. Viel mehr würden die Ukrainer in diesem komplexen Verfahren von den Behörden „relativ allein gelassen“, bemängelt die Helferin: „Ein Großteil hat am Anfang gar nicht gewusst, was er machen soll.“

Kurz nach Versand der Kündigungen seien auch die Mitarbeiter der Ämter überfordert gewesen. Immer wieder erhielt sie widersprüchliche Antworten auf ihre Fragen. Das habe sich mittlerweile gebessert. Doch ein Umzug in einen anderen Bezirk bedeute für Familien mit Kindern erneutes Warten auf einen Schulplatz und Plätze in den Sprachkursen – Zweiteres könne bis zu einem Jahr dauern.

Ende Mai hatte Landrat Rico Anton (CDU) den Kurs verteidigt: „Mit dem Bezug von Bürgergeld sind eben nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten verbunden.“ Das Landratsamt hatte außerdem betont, die Räumungsfristen kulant auszulegen. Doch Zwangsräumungen seien „nicht auszuschließen“. Die betroffenen Ukrainer seien außerdem früh über die Gesetzeslage informiert worden.

„Das ist Panikmache, die nichts mit der Realität zu tun hat“

Deutliche Kritik schickt indes der Sächsische Flüchtlingsrat in den Erzgebirgskreis. „Das Signal ist: Das Boot ist voll; unabhängig von der Faktenlage“, sagt Sprecher Dave Schmidtke. Er wirft Landrat Anton Populismus vor, auf Kosten der ukrainischen Flüchtlinge wolle er ein Zeichen setzen und Flüchtlinge abschrecken. Dabei habe der Migrationsdruck in den vergangenen Monaten spürbar nachgelassen, die Erstaufnahmeeinrichtungen in Sachsen seien zu nicht einmal 40 Prozent belegt. „Das ist Panikmache, die nichts mit der Realität zu tun hat“, sagt er über die Argumentation, dass die Plätze in den Gewährswohnungen für andere Asylbewerber benötigt würden.

Auch sollte den Ukrainern so viel Zeit für den Umzug gegeben werden, wie die Behörden für die Bearbeitung brauchen. Sechs Wochen seien da unrealistisch. Genauso unnötig sei die Unterbringung von Flüchtlingen in Turnhallen im Erzgebirgskreis. „Wir wissen, dass der Wohnraum existiert“, sagt Schmidtke und bezeichnet die Zustände dort als unwürdig. Ohne Küche und mit Duschen und Waschbecken aus der DDR, zwischenzeitlich ohne Warmwasser, sei das insbesondere für vulnerable Menschen unwürdig.

"Wir machen uns Sorgen wegen der Frist zum 15. Juli“

Helfer hätten nach Kritik an den Zuständen Zutrittsverbot erhalten. „Gerade in Sachsen ist es wichtig, Engagement zu unterstützen“, sagt der Flüchtlingsrats-Sprecher und verweist auf die hohen Zustimmungswerte für die AfD. Maria und Vitali versuchen derweil, ihre Wohnung trotz der Kündigung zu halten. Dafür müssten sie ein eigenes Mietverhältnis mit dem Vermieter eingehen und den Vertrag vom Jobcenter bewilligt bekommen. In vielen Fällen ist das laut Helfern und Medienberichten gelungen. Diese Wohnungen stehen dann allerdings nicht mehr für andere Asylbewerber bereit.

Eigentlich haben ukrainische Familien wie Maria und Vitali gerade andere Prioritäten als die Wohnungssuche. „Für uns ist es wichtig, Deutsch zu lernen und Arbeit zu suchen“, sagt Maria. Sie und ihr Mann wollen bald das B2-Zertifikat und eine Fachsprachprüfung ablegen, um anschließend ihren Berufen nachzugehen und eigenes Geld zu verdienen. Danach könnten sie besser eine passende Wohnung suchen. Dazu kommen die beiden Kinder im Schulalter, um die sie sich kümmern.

„Das ist Extrastress. Wir machen uns Sorgen wegen der Frist zum 15. Juli“, sagt Maria über die Kündigung. Gleichwohl ist den beiden wichtig zu betonen, wie dankbar sie Deutschland für die Unterstützung sind. Auch im Erzgebirgskreis hätten sie viel Hilfe erfahren.