Liebhaber-Auto: Mille Miglia mit dem Flügeltürer

Rom (dpa/tmn) - Sind 10 Stunden, 7 Minuten und 48 Sekunden eine lange Zeit? Kommt drauf an. Aber ganz sicher nicht, um 1955 rund 1000 Meilen von Brescia nach Rom und wieder zurück zu rasen. Das gelang einem gewissen Stirling Moss bei der Mille Miglia in Italien.

Schneller als die britische Rennlegende im offenen Mercedes 300 SLR hat keiner je die Strecke abgespult: Sein Durchschnitt von 157,651 km/h auf öffentlichen, wenn auch größtenteils abgesperrten Straßen, ist deshalb bis heute unerreicht.

Die Schwaben mischten Mitte der 1950er wieder ganz vorn mit in der Formel 1 und bei den Sportwagen. Normalsterbliche konnten auch etwas Motorsport-Luft schnuppern, wenn sie gut betucht waren. So etwa im 300 SL Sportwagen, der als Coupé mit Flügeltüren und als Roadster auf den Markt kam. Wie groß der Mythos von Moss, Mercedes und Co. in Italien immer noch ist, lässt sich heute auf der Mille Miglia erleben.

Heute ist die Millie Miglia eine Gleichmäßigkeitsfahrt

Die wird in Neuauflage seit 1977 wieder als Gleichmäßigkeitsfahrt für historische Autos ausgetragen - auch ein erlesner Zirkel. Wer einen qualifizierten Wagen hat und aktuell rund 10.000 Euro pro Team bezahlen kann, darf mitmachen. Wobei die Teilnehmergebühr noch der kleinste Batzen ist. Nur Autos dürfen starten, die schon bei den Originalrennen zwischen 1927 und 1957 gemeldet waren. So ist der Fuhrpark entsprechend edel - und entsprechend teuer.

Und kaum ein anderes Auto ist so wertvoll wie der 300 SL Flügeltürer. Gerade hat Mercedes 135 Millionen Euro für ein besonderes Exemplar erlöst. Damit wurde der bisherige Rekord eines Ferrari GTO mal eben verdreifacht. Dabei handelte es sich aber nicht um einen der insgesamt 1400 Flügeltürer, die Mercedes von 1954 bis 1963 weitgehend in Handarbeit produziert hat. Sondern es ging um das sogenannte 300 SLR Uhlenhaut-Coupé, das nur zweimal gebaut wurde. Es basierte auf dem 300 SLR, so wie ihn auch Moss bei der Mille Miglia zum Sieg fuhr.

Flügeltürer gefällig - unter einer Million kaum machbar

Doch auch ein normaler 300 SL ist heute kaum für weniger als siebenstellige Preise zu bekommen. Aber auch das ist nur eine konsequente Fortschreibung der Geschichte. Schließlich hat der Flügeltürer bei seiner Premiere 1954 schon 29.500 D-Mark gekostet und war für das Gros der Menschen ein Auto von einem anderen Stern. Und trotzdem ist das Coupé heute jeden Cent wert, zumindest wenn man damit bei der Mille Miglia unterwegs ist. Was als die berühmteste Oldtimer-Rallye der Welt gilt, ist nur formal eine Gleichmäßigkeitsfahrt. Inoffiziell dagegen ist das jährlich wiederkehrende Event eine Neuauflage des Rennens, bei dem die Polizei alle Augen zudrückt und viele Carabinieri selbst die Gelegenheit nutzen, ihre Streifenwagen und -motorräder endlich einmal auszufahren. Und wohl kein anderes Auto hat auf den auch heute noch 1000 Meilen so viel Street Credibility wie der Flügeltürer.

«Che bella macchina»

Statt sich darüber zu ärgern, dass der Mercedes oft die Kurven schneidet, sich im Ampelstau ganz links nach vorne mogelt, nur um am Ende doch rechts abzubiegen, oder beim Überholen auch mal den Gegenverkehr zum Bremsen zwingt, fliegen ihm überall die Herzen zu. Statt wüster Flüche schallt ihm immer und überall nur ein Satz entgegen, den man auch ohne Italienischkurs auf Anhieb versteht: «Che bella macchina». Die italienische Liebe zum Auto ist heiß und innig. Und sie folgt hier buchstäblich ihren ganz eigenen Gesetzen. Selbst die Polizisten lächeln verzückt, wenn die Oldtimer jenseits des Limits über die Landstraßen fliegen. Sie sperren Kreuzungen, winken die PS-Preziosen über rote Ampeln und geleiten die Klassik-Karawane im Zweifel mit Blaulicht und Vollgas durch die Rushhour, wenn das organisierte Chaos in Parma oder um Mailand herum mal wieder zu groß wird.

Applaus, Applaus, Applaus

Zwar lässt sich die Begeisterung leider nicht auf die vielen stationären Radarfallen übertragen, sodass man kaum vor Strafzetteln geschützt ist. Doch zumindest von den Carabinieri gibt es statt Sanktionen noch ein aufmunterndes Schulterklopfen.

Viele Tausend Zuschauer am Straßenrand vom Pennäler bis zum Priester geben jedem einzelnen Teilnehmenden das Gefühl, ein Held zu sein, der wirklich etwas geleistet hat. Der Applaus für Stirling Moss kann nicht größer gewesen sein als die Begeisterung, die den rund 450 Oldtimern in jedem noch so kleinen Ort entgegenschlägt. Und je älter das Auto, je lauter der Motor und je schmutziger die Fahrer, desto frenetischer ist der Jubel.

Heiß, vergleichsweise unsicher - und betörend

Dass der Flügeltürer schon 70 Jahre auf seinen schmalen Rädern hat, merkt man ihm dabei kaum an. Während andere Autos aus ähnlichen Baujahren noch wirken wie motorisierte Kutschen, fährt er (fast) wie ein modernes Auto - von den zahnlosen Trommelbremsen mal abgesehen.

Ja, es wird höllisch heiß in der überraschend geräumigen Kabine, wenn man drin ist. Die spektakulären Flügeltüren über der hohen Brüstung erfordern zuvor ein bisschen Gymnastik. Und an einen Unfall denkt man besser erst gar nicht. Denn lange vor serienmäßigen Sicherheitsgurten oder gar ABS und ESP gibt es außer dem dünnen Gitterrohrrahmen hier nichts, was einem das Leben retten könnte. Doch der Motor schnurrt wie am ersten Tag, die Gänge flutschen nur so durch das vierstufige Getriebe. Und die Straßenlage schürt ein unerschütterliches Vertrauen in die Entwickler von einst. Drei Liter Hubraum haben die sechs in Reihe montierten Zylinder, mobilisieren dabei 158 kW/215 PS.

Verwischte grüne Schleier und dann ums Kolosseum

Die werden erst jenseits von 4000 Touren so richtig munter. Dann allerdings schießt der Silberpfeil durch die Toskana, die Marken oder das Latium, als gäbe es kein Halten mehr. Er lässt bei einem Sprintwert von rund zehn Sekunden auch viel jüngere Konkurrenten förmlich stehen. Die Zypressen am Wegesrand verwischen bei einem Spitzentempo weit jenseits der 200 km/h zu einem grünen Schleier.

Zur Hälfte der Rallye rollen wir kurz vor Mitternacht in Rom ein, von der Polizei mit Vollgas ums Kolosseum herum durch die Ewige Stadt geleitet. Spätestens dann fühlt man sich tatsächlich wie Stirling Moss bei seiner Rekordfahrt für die Ewigkeit. Am Ende sitzen die Teilnehmer zwar fast viermal so lang im Auto wie der 2020 verstorbene Sir Stirling. Und zumindest während der drei Dutzend Sonderprüfungen mit extra niedrigem Durchschnittstempo oder sekundengenauen Schleichfahrten haben sie sogar mal ganz bewusst den Fuß vom Gas genommen.

Doch als der 300 SL nach 1000 Meilen auf rotem Teppich in Brescia über die Zielrampe rollt, sind 70 Jahre auf vier Tage zusammengeschmolzen - und auf eine einzige Erkenntnis: Die Legende ist lebendiger denn je.