Türkei-Experte über Demiral-Debatte - Die deutsche Aufregung um den Wolfsgruß ist „ein Jackpot für Erdogan“

Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, besucht ein Spiel der EM 2021.<span class="copyright">Mcm/Turkish Presidency/dpa</span>
Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, besucht ein Spiel der EM 2021.Mcm/Turkish Presidency/dpa

„Skandalös“, „böswillig“, „fremdenfeindlich“: Nach dem umstrittenen Wolfsgruß des türkischen Nationalspielers Merih Demiral hagelt es aus der Türkei Kritik gegen die deutsche Empörungswelle. Laut Türkei-Experte Yaşar Aydın könnte der Skandal vor allem einem nutzen: Präsident Recep Tayyip Erdogan.

Herr Aydın, der von dem türkischen Nationalspieler Merih Demiral gezeigte Wolfsgruß gilt als Erkennungssymbol der türkischen rechtsextremen Partei MHP und deren Jugendorganisation, der Grauen Wölfe. Welche Bedeutung hat das Zeichen in der türkischen Politik und Gesellschaft?

Yaşar Aydın: Es gibt dazu zwei verschiedene Auffassungen in der Türkei. Viele Türken glauben, das Zeichen sei ein alttürkischer Gruß, sie denken also, er gehöre fest zur Geschichte und Kultur der Türkei dazu. Dazu muss man wissen, dass der Wolf als Tier in der türkischen Mythologie eine große Rolle spielt. Diese Annahme führt zur Empörung einiger Türken über die deutschen Reaktionen.

Was ist die andere Auffassung?

Aydın: Ein anderer Teil der türkischen Bevölkerung verbindet den Gruß mit der Gewalt, dem Autoritarismus und dem Neofaschismus der rechtsextremen Partei MHP. Tatsächlich existiert der Wolfsgruß in der Türkei erst seit den 1990er Jahren. Einer der Gründungsväter der MHP hatte das Zeichen damals in Aserbaidschan gesehen und dann als Parteigruß in der Türkei etabliert. Die Meinungen im Land sind also durchaus gespalten.

Der türkische Justizminister Yilmaz Tunc nannte das von der Uefa eingeleitete Disziplinarverfahren gegen Demiral „böswillig“, es sei „zielgerichtet gegen die Türkei“. Auch ein Sprecher der Partei von Präsident Recep Tayyip Erdoğan äußerte sich ähnlich. Inwiefern könnte der Fall dem Präsidenten in die Hände spielen?

Aydın: Der Skandal rund um Demirals Wolfsgruß könnte ein Jackpot für Präsident Erdogan sein. Er könnte sich nun hinstellen und sagen: „Seht her, die Deutschen predigen uns Demokratie, aber akzeptieren selbst keine anderen Meinungen und Sichtweisen.“ Er wird Deutschland und Europa wieder einmal ein Prinzip der Doppelzüngigkeit und der Doppelmoral vorwerfen– wie damals bei dem Fall rund um Mesut Özil.

Als der bei der WM 2018 mit Erdoğan für ein Foto posierte …

Aydın: Genau. Da war immer das Argument: „Ihr regt euch darüber auf, dass euer Nationalspieler sich mit seinem Staatspräsidenten ablichten lässt, aber es gab keinen Skandal, als Lothar Matthäus ebenfalls 2018 mit Putin posierte.“ Solche Narrative sind aus deutscher Sicht immer sehr heikel.

Warum genau?

Aydın: Auch für die Deutsch-Türken ist das Ganze ein sehr polarisierendes Thema. Wenn der Fall um Demiral und auch die Reaktionen der Türkei darauf von der deutschen Politik nicht gut gehändelt werden, besteht die Gefahr, dass der Wolfsgruß vor allem unter türkischen Jugendlichen in Deutschland Zustimmung findet. Sie bekommen von Erdogan vermittelt, dass solche Skandale immer nur passieren, wenn es sich um die Türkei handelt. Wenn sich dieses Gefühl einstellt, könnte das dazu führen, dass gerade junge Deutsch-Türken sagen: „Jetzt erst recht“ und dann auch dieses Zeichen machen.

Was meinen Sie, passiert bei dem nächsten Türkeispiel am Samstag? Wird Demiral den Gruß möglicherweise wieder zeigen?

Aydın: Das ist natürlich schwer einzuschätzen. Mein Eindruck ist nicht, dass ihn der ganze Wirbel groß eingeschüchtert hat. Trotzdem könnte es natürlich sein, dass der türkische Fußballverband die Spieler noch einmal zu Vernunft ruft. Nach dem Motto: „Dem Land geht es nicht gut, wirtschaftlich sind wir angeschlagen und wenn wir dazu jetzt auch noch schlechte Presse bekommen, ist das nicht in unserem Interesse“.

Was am Samstag genau passieren wird, bleibt abzuwarten. Ich kann nur sagen: Ich hoffe, dass es ein schönes Spiel wird am Samstag. Die türkischen Fans sind durchaus fähig dazuzulernen. Im ersten Spiel wurde während der georgischen Nationalhymne im Stadion noch laut gepfiffen. Das kam nach einiger Kritik bei den anderen Spielen nicht mehr vor.

Herr Dr. Aydin, vielen Dank für das Gespräch.