Kommentar: Geht Deutschlands Hauptstadt unter?

Szenen wie aus einem Aufstand: Der Berliner Checkpoint Charlie Silvester 2022 (Bild: REUTERS/Michele Tantussi)
Szenen wie aus einem Aufstand: Der Berliner Checkpoint Charlie Silvester 2022 (Bild: REUTERS/Michele Tantussi)

Die Republik zerrauft sich die Haare wegen Berlin. Von dort aus wird das Land regiert, aber dort selbst geht eine Menge baden: Die Silvesterexzesse, eine verbockte Wahl und Bürokratie zum Weinen. Ist Berlin tatsächlich eine „Failed City“? Eigentlich war es nie anders.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Um Berlin eine Weltuntergangsstimmung zu attestieren, braucht man nur aus dem Fenster zu schauen. Orange-rote Wolken rasen vorüber, während ich diese Zeilen schreibe. Unwirklich und ungesund. Schließlich braucht es wirklich nicht viel Phantasie, um in dieser Stadt einen Schlamassel zu sehen, wohin man auch blickt.

Nun ist es mal wieder soweit: Deutschlandweites Kopfschütteln über Berlin wegen der Gewaltexzesse in der Silvesternacht. Krasse Bilder von Böller- und Raketenangriffen gegen Menschen, die Helfer Aller sind, die unsere Gesellschaft zusammenhalten: Rettungssanitäter, Feuerwehrleute und Polizisten. Und Eltern, die mit ihren Kindern in Hauseingänge flüchten, weil junge Männer Krieg spielen. Es waren Szenen, in denen der Staat weit weg schien.

Und das im Hintergrund einer Wahl zum Abgeordnetenhaus aus dem Herbst 2021, die im Februar nun wiederholt werden muss: Die Behörden hatten den Urnengang in nicht wenigen Wahllokalen vermasselt, es fehlten Stimmzettel, Ordnung und Organisation. Jetzt startet in der Hauptstadt ein Wahlkampf, der müde und unwirklich ausschaut. Ungesund. Wo fließen eigentlich all unsere Steuergelder genau hin, fragten sich manche Bundesbürger; Berlin erhält über den Länderfinanzausgleich über drei Milliarden Euro im Jahr.

Jedenfalls isst die Verwaltung viel, ohne entsprechend zu geben. Berlin leistet sich Doppelstrukturen, mit denen auf Bezirksebene sabotiert wird, was man auf Landesebene beschließt. Viele reden mit, und am Ende geschieht nichts. Eben Berliner Larifari.

Unvergessen bleiben die Storys über den BER, den Berliner Flughafen, der als jahrelanges Milliardenloch für Scheitern schlechthin stand.

Jedem Tierchen sein Pläsierchen

Auf vieles muss man in Berlin warten: Auf einen neuen Pass, auf einen Schulplatz fürs Kind, nur der Steuerbescheid mit den Nachzahlungsforderungen kommt immer schnell.

Und die Kriminalität nervt, allein Fahrraddiebstähle sind Alltag – und das, wo normale Räder mittlerweile schwer zu kriegen sind.

Doch es gibt auch andere Seiten. Auf den Rettungs- oder Polizeiwagen wartet man in Berlin viel kürzer als anderswo in Deutschland. Deren Organisationsnetz ist phänomenal. Und wo gibt es U- und S-Bahnen, die im Fünfminutentakt fahren? Das große Scheitern im Öffentlichen Verkehr vollzieht sich auf Bundesebene mit der Deutschen Bahn, nicht in Berlin.

Außerdem ist fast alles, das in Berlin schiefgeht, seinem Großstadtstatus geschuldet. Klar, dass es in der größten Menschenansammlung des Landes die meiste Kriminalität pro Kopf gibt. Will man in Ostfriesland dem Nachbarn die Kühe von der Weide stehlen? Und braucht man zum Beispiel einen Pass, muss man halt ein wenig mehr hin und her klicken, dann klappt es meist mit einem Termin. Wenn Berlin so wenig lebenswert ist, warum ziehen dann so viele hin? Und warum fliehen dann im Gegenzug die Berliner nicht? Man will eigentlich nicht weg. Dann gäbe es doch weniger zum Meckern, und das macht in Berlin schlicht mehr Spaß.

Berlin hat sich in den vergangenen 200 Jahren von einem Provinznest, wie es in Deutschland viele gibt, zum Magneten entwickelt. Schon vor hundert Jahren wollten alle dorthin: Die ausbüxenden Straßenkinder, Künstler und Glücksritter, Unternehmer und Leute mit Geld in den Taschen. Die Berliner Luft lässt einen nämlich atmen, und sie riecht nicht nach Pfefferminz. Dass dieser Moloch sich immer wieder in Zügen als unregierbar zeigt, ist keine Neuigkeit. Wir haben ja nur einen im ganzen Land.

Die Berliner Silvesterexzesse bildeten sich im Kleinen auch in anderen Gegenden Deutschlands ab -schließlich war Böllern schon immer ein Gewaltakt. Was schließlich in Berlin geschah, waren nur Momentaufnahmen. Szenen, die zwar schockieren und nach Konsequenzen rufen, aber auch schnell vorbeizogen. Wenn der Staat mal kurz weg war, zeigte er sich Sekunden später wieder. Zur nötigen Aufarbeitung gehören: ein Böllerverbot und eine Debatte, zu der vor allem die jungen Männer aus Familien mit einer Einwanderungsgeschichte gezwungen werden müssen: Krieg Spielen, wenn überhaupt, bittschön am Bildschirm; das Dreidimensionale dieser Stadt gehört ihnen nicht. Überhaupt ist Gewalt von ihnen mehr zu thematisieren, ihr Sammelsurium an Männlichkeitsvorstellungen, ihr Verhältnis zum Staat. Andersrum müssen Stadt & Staat beantworten, was sie von den Schabab in Schöneberg wollen. Das ist nie ganz klar, nicht selten regiert Interessenlosigkeit. Respekt aber erwächst aus Ernsthaftigkeit.

Deswegen ist das Zetern über Berlin als angebliche failed city wohlfeil. Das Geld aus dem Länderfinanzausgleich ist bei genauem Hinsehen nicht viel; immerhin leistet Berlin als Hauptstadt viele Sonderdienste, die andere Kommunen und Bundesländer nicht kennen – auch garantiert die Stadt vielen Menschen aus dem Umland Arbeit und damit Wohlstand, ohne dass sie in Berlin ihre Steuern zahlen. Berlin muss man sich leisten. Können und wollen.

Jeder nach seiner Fasson

Denn Berlin ist kein extraterritorialer Teil Deutschlands. Es ist mittendrin. Vieles, was in der Republik passiert, wird in der Hauptstadt im Voraus gelebt und im Nachhinein reflektiert. Berlin ist das Labor des Landes. Außerdem sind viele Deutsche einfach nur neidisch auf die Gelassenheit der Berliner, mit der sie auf den Stress ihres Alltags reagieren. Schulterzucken ist echt berlinerisch, die Schnauze legendär, der Humor trocken und stark gewürzt – was will man mehr? Berlin war auch immer Einwanderungsstadt, ein Kaleidoskop der Menschheit. Da passiert an allem mehr, im Guten wie im Schlechten. Berlin ist keine failed city, sondern ein global hot spot. Wie zum Beweis schaue ich wieder aus dem Fenster. Das schmutzig rötliche Licht ist in einen fetten Regenbogen übergegangen. Von wegen Untergangsstimmung.

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