Kommentar: Gillamoos ist nicht Deutschland

Markus Söder (links) und Friedrich Merz bei einem CSU-Parteitag in Augsburg im Oktober 2022 (Bild: REUTERS/Lukas Barth)
Markus Söder (links) und Friedrich Merz bei einem CSU-Parteitag in Augsburg im Oktober 2022 (Bild: REUTERS/Lukas Barth)

CDU-Parteichef Friedrich Merz bemühte sich gestern um ein skurriles Deutschlandbild: Die Republik als Bierzelt. Schiefer kann man nicht geraten. Damit offenbart der Oppositionschef, dass er im 20. Jahrhundert steckenbleibt.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Man könnte ja sagen: In einem Festzelt muss nicht jedes Wort in die Waagschale. Da geht es ums Draufhauen und Anbiedern zugleich, alles auch ein wenig alkoholisiert. Fünfe gerade sein lassen. Aber in allem schimmert ein Körnchen Wahrheit, und Friedrich Merz sorgte dafür, dass man es verstand, als er einen Satz auf dem „Gillamoos“ im Bierzelt zweimal zum Publikum sagte: Sie sind Deutschland! Nicht Berlin, nicht Kreuzberg! Gillamoos ist Deutschland!“

Die Rede von Friedrich Merz in Gillamoos im Video:

Berlin-Kreuzberg, das kennen wir alle. Oder meinen es zumindest zu kennen. Aber wer oder was ist Gillamoos? Ich habe nachgeschaut. Der älteste Jahrmarkt Bayerns, recht groß, in Niederbayern. Dazu gehört ein Politischer Frühschuppen mit mehreren Festzelten, in denen Politgrößen zum verbalen Kräftemessen antreten. Am Tag, als Merz dort wienerte, werden ein paar tausend Besucher dagewesen sein. Ich dachte, Deutschland mit seinen 80 Millionen Einwohnern sei etwas größer…

Weitere Hintergründe zum Thema gibt's hier: Kreuzberg oder Gillamoos - Kühle Reaktion auf Merz-Ausspruch

Nun hat auch niemand behauptet, Kreuzberg sei Deutschland. Die Kreuzberger jedenfalls meinen sowas bestimmt nicht. Um zu verstehen, was Merz sagen wollte, lässt sich nur spekulieren: Kreuzberg hat ein Image. Dieses wurde vor 50 Jahren geprägt und erzählte dem Rest der Republik, dieser Kiez sei voll mit Linken und „Ausländern“, vornehmlich Menschen aus der Türkei. Beides stimmte nie, und heute erst recht nicht. Kreuzberg ist zwar ziemlich angesagt, ein Dauerbrenner und damit ein Schmuckstückchen im Lande. Touristen schwärmen dort aus, und Bürgerliche aus den G7-Staaten mieten oder kaufen sich gleich ein. Merz scheint da etwas nicht mitgekriegt zu haben, jedenfalls speist sich sein Gedankenbild aus verflossenen Jahrzehnten. Vielleicht wollte er sagen, Linke und Ausländer möge er nicht, keine Ahnung. Gerüchten zufolge soll sich aber auch mancher „Linker“ und mancher „Ausländer“ auf dem Gillamoos tummeln; man weiß es ja nicht, noch ist es nicht soweit, dass man eine Marke tragen muss.

Jedenfalls scheint es Merz besonders wichtig zu sein, die Bundesrepublik wiederholt von Kreuzberg abzugrenzen, wie auch diese kürzlich gepostete Aussage auf X (ehemals Twitter) zeigt:

Das Land eine Party?

Ich frage mich, wie Deutschland aussähe, wäre es wie Gillamoos. Die Republik eine einzige Achterbahnfahrt? Der Alltag ein Bierrausch von morgens bis abends? Zum Glück ist Deutschland kein Jahrmarkt, und Gillamoos bleibt ein Zirkus, in dessen Manege dressierte Politiker gelassen werden, damit sie durch Erwartungsreifen springen.

Es wird dabei immer ein wenig gefährlich. Denn die Demokratie drückt sich zuweilen durch Mehrheitsmessungen aus, etwa durch Wahlen oder Referenden. Alles andere stammt eher aus dem Reich der gefühlten Fakten. Merz hatte gestern, ganz gegen sein Naturell, eine Menge Gefühl. Denn vielleicht wollte er sagen, dass die Mehrheit der Deutschen so denke wie auf dem Gillamoos, wo man angeblich, so verstehe ich Merz, es mit Linken, Ausländern und jedem liberalen Schweinkram nicht so hat. Andere Redner priesen den Schweinsbraten und verulkten die Sojawurst; jeder sucht sich seine eigenen drängenden Themen des Tages.

Hubert Aiwanger. (Bild: REUTERS/Leonhard Simon)
Hubert Aiwanger. (Bild: REUTERS/Leonhard Simon)

Jetzt geht’s ans Eingemachte

Was aber wirklich stört, ist die Merzsche Imagination. Merz, und auch Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger tickt ähnlich, tut so, als spreche er für eine Mehrheit im Land. Das tut keiner. Das tut auch nicht Kanzler Olaf Scholz, keiner aus Kreuzberg und auch nicht aus Gastrop-Rauxel. Denn jeder Mensch spricht erstmal für sich.

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Es ist leider eine typische populistische Anmaßung, die eigene Haltung größer werden zu lassen – das ist kein überzeugendes Argument, aber darum geht es auch nicht. Es ist auch nicht faktisch, aber darum geht es ebenfalls nicht. Es geht ums Aufplustern. Sich aufhübschen.

Eindrücke von Aiwanger in Gillamoos gibt's im Video:

Das wirkt umso befremdlicher, als Merz nun wirklich kein Bierzelt-Typ ist. Muss er auch nicht sein. Dann sollte er aber auch nicht so tun, als ob. Und von Bayerns Ministerpräsident Markus Söder weiß man, dass er an einem Bier im Zelt lediglich kurz nippt – oder die Maß nur austrinkt, wenn heimlich Cola Light drin ist. Das ist alles nicht unsympathisch. Aber Klamauk bleibt Klamauk. Während also Merz in der Vergangenheit bleibt und eventuell zu viel Karussell gefahren ist, geht der Rest der Republik seinem Alltag nach.