Kommentar: Was hat Erdogan mit den Erdbebenschäden zu tun?

Der türkische Präsident nennt das verheerende Erdbeben ein Schicksal. Das war es auch. Das sagt aber nichts darüber aus, wie viele Schäden, Verletzte und Tote hätten vermieden werden können. Und schon jetzt zeichnet sich ab: Nicht nur ist seine Herrschaft mit dem Krisenmanagement überfordert, sondern sie ist auch für die Bausünden der Vergangenheit verantwortlich.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Viele Gebäude sind beim Erdbeben auch im türkischen Kahramanmaras eingestürzt (Bild: REUTERS/Suhaib Salem)
Viele Gebäude sind beim Erdbeben auch im türkischen Kahramanmaras eingestürzt (Bild: REUTERS/Suhaib Salem)

Die Erzählung steht bereit. Das Beben, das im Süden der Türkei tobte, war schlicht zu groß. Eben unmenschlich und unermesslich, daher unplanbar auch alles andere – so werden es die Offiziellen in Ankara der Bevölkerung einzubläuen versuchen. Schicksal eben. Es ist der Versuch der türkischen Regierung, den Staub von der Weste zu kriegen. Nur ist da nicht nur Staub.

Nun zählt man die Toten mit einer Null mehr. Die Tage des großen Schocks sind vorüber, der schnellen Rettung, wo und was geht. Bald werden nur noch Tote aus den Trümmern geholt werden. Leute werden immer noch draußen in Provisorien ausharren. Und sie werden auf jene Gebäude schauen, die stehenblieben. Sie werden fragen, warum nicht ihr Haus auch dem Beben standhielt. Schicksal? Das hätte Recep Tayyip Erdogan gern.

Wie ein Mahnmal blickt zum Beispiel ein Gebäude in Kahramanmaras auf ein einziges Trümmerfeld um sich herum. Selber sind im Haus nicht einmal Fenster zu Bruch gegangen. Der Grund: Man hielt sich beim Bau an Recht und Gesetz, mehr nicht. Und es gehört der Innung der Ingenieure und Architekten, die wussten eben Bescheid.

Erdogans Partei AKP steht seit seiner Machtübernahme Anfang der Nullerjahre für einen beispiellosen Bauboom. Die Wirtschaft sollte angekurbelt werden, und es vollzog sich eine enge Beziehung zwischen Baukonzernen und der Partei. Es sollte geklotzt werden. Natur, Umwelt, Sicherheitsbedenken – alles egal. Erdogans Politik war die des Bulldozers. Er prägte das Land auch durch die Flächenversiegelung, durchs Betonieren. Und die Mischung, mit der gebaut wurde, war auch noch schlecht.

All dies fällt ihm nun vor die Füße.

Die Zukunft brachte nichts ein

Die AKP brüstete sich noch bis vor kurzem, dass ihre Regierung eine Bausündenamnestie erlassen hatte – es war ein Pokern gegen die Natur. Und nun hat das Erdbeben gewonnen. Wer Liebste verloren hat, die Wohnung, alles, der wird Fragen stellen.

Erdogan versucht schon jetzt die bekannten Ausweichmanöver. Kritiker werden verhaftet, der verhängte Ausnahmezustand hilft der Regierung auch, hier schnell tätig zu werden und Opposition zu behindern. In diesen ersten Tagen war die Türkei eine einzige Gemeinschaft. Alle halfen, wo es ging. Die Solidarität innerhalb der Gesellschaft kannte keine Grenzen; das Erdbeben war ja auch riesig, und die Schäden waren kaum zu glauben.

Aber Erdogan wird beantworten müssen, warum die Streitkräfte, diese Riesenarmee, in den ersten Stunden nach dem Beben nicht zur Rettung ausrückte. Warum der amtliche Katastrophenschutz hinterher hinkte. Warum ehrenamtliche Hilfe gar behindert wurde. Warum Journalisten bedrängt werden, die Lage schönzureden. Warum die Hotels für die vielen Obdachlosen nicht geräumt werden. Erdogans AKP ist eine zutiefst religiöse Partei. Aber im Zweifel sind ihr die Finanzen sehr wichtig, da verrutschen die Maßstäbe sehr ins Weltliche und Materielle.

Nun stören die Wahlen

Erdogans Krisenmanagement ist miserabel. Und nun steht er vor dem Schlamassel, die für Juni vorgesehenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen auf den Mai vorgezogen zu haben. Das tat er, weil er glaubte, sich damit einen strategischen Vorteil zu sichern.

Doch nun hätte Erdogan alle persönlichen Gründe, die Wahlen wieder zu verschieben – vielleicht gar um ein Jahr. Überhaupt wird ein Sultan wie er womöglich nur Wahlen abhalten lassen, wenn er sich des Sieges sicher ist; immerhin drohen ihm Strafprozesse wegen all der Korruptionsverdachte, die sich angesammelt haben.

Beim autokratischen Herrscher Erdogan, der die Demokratie mit Füßen tritt, fällt der Lack ab. Er kann sich immer schlechter als Kümmerer verkaufen, als einer, der für die Leute sorgt. Denn spätestens das Erdbeben hat dieses Bild erschüttert. Seine Unmoral steht nun offen da.

Im Video: Nur von oben sieht man das ganze Ausmaß der Zerstörung