Neue Serie: Mir reicht's, ich gehe in den Osten - Wie AfD-Sympathien des Sohnes eine Familie an den Abgrund brachten

Immer häufiger verursacht Streit um die AfD Risse, die quer durch Familien gehen.<span class="copyright">Arabella Zeciri / FOCUS online</span>
Immer häufiger verursacht Streit um die AfD Risse, die quer durch Familien gehen.Arabella Zeciri / FOCUS online

Die AfD spaltet nicht nur das Land, sondern auch Familien. Über Jahre zog die Eiszeit am Abendbrottisch einer Thüringer Familie ein, wenn die Eltern ihren Sohn fragten, was ihn an der Höcke-Partei fasziniert. Nun erzählt der Vater FOCUS online von seiner Verzweiflung - und einer unerwarteten Wendung.

Roman Selzer (Namen verändert, d. Red) lebt mit seiner Familie in Thüringen. Er und seine Frau unterstützen und wählen Parteien der breiten demokratischen Mitte. Die Nähe ihres Sohnes zur AfD wurde schon vor Jahren zu einem Gesprächskiller. Während Vater und Mutter Fragen stellten und Argumente gegen die AfD vortrugen, ernteten sie wütende Schreie und zugeknallte Türen. Die Familie möchte anonym bleiben.

FOCUS online: Herr Selzer, wann genau wurde Ihnen klar, dass ihr Sohn in die rechtspopulistische Ecke zur AfD abgedriftet war?

Roman Selzer: Der Anfang war schleichend, an einen konkreten Moment erinnere ich mich nicht. Aber die ersten Anzeichen gab es schon vor etwa zehn Jahren. Unser Sohn ging damals in die 9. Klasse.

Das ist ja schon ziemlich früh. Wie hat sich das denn geäußert?  

Selzer: Ab und an ließ er, nachdem er von der Schule zurückgekommen war, merkwürdige Sprüche fallen. Zum Beispiel über Ausländer.

Und wie haben Sie reagiert?

Selzer: Zunächst gar nicht. Wir dachten, dass das Dinge sind, die Jungs in dem Alter eben ab und an arglos sagen, weil sie irgendwo etwas Dummes bei halbstarken Kumpels aufgeschnappt haben, ohne sich über die Bedeutung im Klaren zu sein. Ich kenne das aus meiner eigenen Jugendzeit.

Und wann haben Sie gemerkt, dass mehr dahintersteckt?

Selzer: Irgendwann nahm die Häufigkeit solcher Bemerkungen zu. Als wir anfingen, nachzuhaken, erzählte mein Sohn dann, dass er abfällige Sprüche über Flüchtlinge bei einigen Lehrern aufgeschnappt hatte. Da wurde uns klar, dass es um mehr ging als nur um dumme Bemerkungen von Halbstarken.

 

Verraten Sie uns, was Sie selbst und Ihre Frau wählen?

Selzer: Wir sind politisch unterschiedlich ausgerichtet. Ich sozialliberal, meine Frau ist etwas konservativer. Wir haben das in der Familie aber nie strukturell thematisiert, noch haben wir versucht, die Kinder in eine bestimmte politische Richtung zu drängen.

Aber waren einzelne Lehrer an der Schule Ihres Sohnes die einzigen Faktoren, die ihn in die Richtung von Positionen geleitet haben, wie sie die AfD vertritt?

Selzer: Nein, keinesfalls. Er hat sich auch über populistische Chatgruppen in sozialen Medien radikalisiert. Das wurde uns klar, als er anfing, typische Phrasen vor allem in Bezug auf die Flüchtlingskrise immer öfter zu wiederholen, die bekanntermaßen in solchen Gruppen kursieren. Wie etwa zur Neiddebatte, was Wohnungen und Geld für Flüchtlinge angeht. Merkels Satz „Wir schaffen das!“ wurde immer mehr angezweifelt. Und es stimmt ja auch, dass es Probleme gab und gibt, sonst hätte sie den Satz ja auch nie gesagt. Aber in diesen Kreisen blieben nur die Probleme übrig.

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Haben Sie denn versucht, mit Ihrem Sohn über diese Argumentationen zu reden?

Selzer: Natürlich haben wir das versucht.

Mit welchem Ergebnis?

Selzer: Dass er nur seine Argumente stur wiederholt hat, untermauert von der Behauptung, die so genannten Main-Stream-Medien würden Fake News verbreiten. Dass es umgekehrt war, war für ihn keine Option.

Können Sie uns ein konkretes Beispiel nennen?

Selzer: Als der ukrainische Präsident Selenskyj nach Berlin kam, gab es Gruppen, die behaupteten, weil Selenskyj in Berlin sei, komme niemand mehr rein in oder raus aus der Hauptstadt. Solche total absurden Dinge, die ja bestens zu prorussischer Propaganda dieser Kreise passen, hat er einfach geglaubt.

Bleiben Sie trotzdem an Ihrem Sohn dran und konfrontieren ihn mit derartigem Unsinn?

Selzer: Ja, das tue ich.

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Wie reagiert er denn darauf?

Selzer: Es endete bislang in der Regel damit, dass er sehr emotional wird, Gegenargumente einfach niederschreit, wütend vom Tisch aufsteht und türknallend den Raum verlässt. Da herrscht dann am Essenstisch die totale Eiszeit.

Wie wirkt das denn auf die anderen Familienmitglieder?

Selzer: Es ist unglaublich beklemmend, dies im Kreis der Familie zu erleben. Und dies umso mehr, weil es ja nicht mal um etwas geht, was direkt das Leben der Familie betrifft - sondern um Politik. Es ist wirklich deprimierend, dass Debatten – oder besser gesagt: der gescheiterte Versuch, sie zu führen – einen Riss in der Familie erzeugt haben, der die Kommunikation zwischen Eltern, Kind und Geschwistern zumindest in diesem Bereich schwierig oder unmöglich macht. Doch zum Glück sieht es inzwischen so aus, als wenn sich das langsam ändern könnte.

Was ist passiert?

Selzer: Er hat kürzlich von sich aus erzählt, dass er der AfD bei den kommenden Landtagswahlen am 1. September nicht seine Stimme geben wird. Ihn haben offenbar die großen Demonstrationen von Hunderttausenden Menschen Anfang des Jahres wegen der Teilnahme von AfD-Politikern an einem Geheimtreffen um Martin Sellner in Potsdam zum Nachdenken bewegt. Und auch Prozesse gegen den thüringischen AfD-Chef Björn Höcke wegen des Verwendens verfassungsfeindlicher Symbole haben mit dazu beigetragen.

 

Das heißt, Sie haben Hoffnung?

Selzer: Ja, das ist ein Zeichen, über das wir uns natürlich außerordentlich freuen. Das gilt im Übrigen nicht nur für meinen Sohn, sondern auch für die Landtagswahl im Allgemeinen.

Wie meinen Sie das? Thüringen fiel ja zuletzt vor allem durch extrem hohe Zustimmungswerte für die AfD bei der EU-Wahl auf, die in einigen Gemeinden sogar deutlich über 50 Prozent lag.

Selzer: Das ist korrekt. Aber das Bild vom 'blauen Osten' bei der EU-Wahl spiegelt glaube ich nicht die politischen Verhältnisse in Thüringen wider. Das haben die Stichwahlen um Landrats- und Oberbürgermeisterposten gezeigt, die 14 Tage nach der EU-Wahl abgehalten wurden. Rund ein Dutzend AfD-Kandidaten und Kandidatinnen hätten allein als Landrat oder Landrätin ins Amt gewählt werden können. Doch wer von ihnen hat es geschafft? Niemand. Auch die AfD-Ergebnisse bei den Kommunalwahlen am 26. Mai sind an die Werte der EU-Wahl nicht herangekommen.

Und was schließen Sie daraus?

Selzer: Protest allein verändert noch nichts. Und es gibt nach wie vor viele Menschen, die die AfD wählen. Aber zum einen werden der Partei Stimmen doch nicht gegeben, wenn es darauf ankommt. Und zum anderen wachen immer mehr Menschen auf. Das sieht man etwa beim Thema Klimawandel, den die AfD ja so gern leugnet. Die Menschen erleben immer öfter am eigenen Leib, dass die Wirklichkeit anders aussieht. All das macht Hoffnung für den 1. September.