Niederländische Studie belegt keinen Zusammenhang zwischen Corona-Impfstoffen und Übersterblichkeit

Fachleute und Gesundheitsbehörden sind sich einig, dass Corona-Impfstoffe weltweit Leben gerettet haben. Trotzdem tauchen online immer wieder Zweifel daran auf – zuletzt anhand einer im British Medical Journal Public Health veröffentlichten Studie. Sie belegt allerdings keine erhöhte Sterblichkeit. Auch die Fachzeitschrift warnte vor Missinterpretationen.

Auf einem Foto sieht man, wie ein Mann auf einer Bahre in einen Rettungswagen geschoben wird. Dazu heißt es: "Niederländische Wissenschaftler gehen davon aus, dass Covid-Impfungen mindestens 35 Millionen Todesfälle verursacht haben". Solche Beiträge verbreiteten sich Mitte Juni 2024 hundertfach auf Facebook und Twitter, genauso in anderen Sprachen wie Bulgarisch, Slowakisch oder Finnisch.

Die deutschsprachigen Beiträge enthalten einen übersetzten Screenshot eines Artikels von "The People’s Voice", einer Website die wiederholt Falschinfos verbreitete. Der Artikel bezieht sich auf eine am 3. Juni 2024 veröffentlichte Studie (hier archiviert). Auf Grundlage der angeblichen Erkenntnisse der Studie spekulierten Webseiten über bis zu 35 Millionen Impftote weltweit.

Bei der Studie handelt es sich um eine Publikation mit dem Titel "Übersterblichkeit in den Ländern der westlichen Welt seit der COVID-19-Pandemie: 'Our World in Data'-Schätzungen von Januar 2020 bis Dezember 2022". Verfasst haben sie Spezialisten für pädiatrische Onkologie aus zwei niederländischen Krankenhäusern und ein unabhängiger Forscher aus Amsterdam. BMJ Public Health ist ein peer-reviewtes Fachmagazin, das zu BMJ gehört. In dem 12-seitigen Papier wird eine solche Behauptung jedoch nicht aufgestellt.

<span>Screenshot der Behauptung: 21. Juni 2024</span>
Screenshot der Behauptung: 21. Juni 2024

In der Studie werden Daten von "Our World in Data" verwendet, anhand derer die Übersterblichkeit als Abweichung zwischen den erwarteten Todeszahlen unter normalen Bedingungen in einem Land mit den gemeldeten Todesfällen betrachtet wird.

"Die Übersterblichkeit ist in der westlichen Welt in drei aufeinanderfolgenden Jahren hoch geblieben, trotz Eindämmungsmaßnahmen und Covid-19-Impfstoffen", heißt es in der Studie. "Das gibt Anlass zu ernster Besorgnis." Politische Entscheidungsträger müssten die Ursachen anhaltender Übersterblichkeit untersuchen, empfiehlt die Studie im Abstract.

In der Einleitung und im Diskussionsteil des Papiers wird unter anderem auf eine vermutete unerwünschte Wirkung der Corona-Impfstoffe eingegangen. "Die Regierungen sind möglicherweise nicht in der Lage, ihre Todesfälle detailliert nach Todesursachen aufzuschlüsseln, obwohl diese Informationen dazu beitragen könnten, zu erkennen, ob eine Covid-19-Infektion, indirekte Auswirkungen von Eindämmungsmaßnahmen, Covid-19-Impfstoffe oder andere übersehene Faktoren eine untergeordnete Rolle spielen", heißt es in dem Papier. Es gibt jedoch keine direkte Schlussfolgerung über den Zusammenhang zwischen Impfung und erhöhter Sterblichkeit, wie in irreführenden Beiträgen behauptet wird.

Verlag und Experten bestreiten Behauptungen

Am 6. Juni 2024 veröffentlichte das BMJ eine Erklärung, in der es hieß, dass über die Forschung falsch berichtet worden sei (hier archiviert): "Verschiedene Medien haben behauptet, dass diese Forschung einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen der Covid-19-Impfung und der Sterblichkeit impliziert. Diese Studie weist keinen solchen Zusammenhang nach."

<span>Screenshot des BMJ-Beitrags auf X, aufgenommen am 14. Juni 2024</span>
Screenshot des BMJ-Beitrags auf X, aufgenommen am 14. Juni 2024

"Die Forschenden erkennen zwar an, dass nach der Impfung Nebenwirkungen gemeldet werden, doch stützen die Forschungsergebnisse nicht die Behauptung, dass Impfstoffe einen wesentlichen Beitrag zu zusätzlichen Todesfällen seit Beginn der Pandemie leisten. Tatsächlich haben die Impfstoffe dazu beigetragen, die schweren Erkrankungen und Todesfälle im Zusammenhang mit der Covid-19-Infektion zu verringern", heißt es in der Erklärung des BMJ.

Nach einigen heftigen Reaktionen auf die Studie erklärte das BMJ am 13. Juni 2024, dass es "die Qualität der Forschung und die Botschaften" des Papiers untersuche. Das BMJ teilte in einer Pressemitteilung, die AFP vorliegt, mit, dass ein entsprechender Vermerk angebracht werden wird. "Das Team für Forschungsintegrität des BMJ steht in Kontakt mit dem Princess Máxima Center. Das Zentrum ist als Zugehörigkeit von drei der vier Autoren aufgeführt und hat bereits angekündigt, dass es die wissenschaftliche Qualität dieser Studie untersucht."

Am 14. Juni 2024 wurde eine Notiz, eine sogenannte "Expression of Concern" (hier archiviert), zur Studie veröffentlichtDarin warnt das Journal vor Missverständnissen auf Grundlage der Studie und stellte klar, dass die Arbeit keinen direkten kausalen Zusammenhang zwischen Sterblichkeit und Corona-Impfung herstellt.

Das sehen auch Wissenschaftler so. "Die spezifische Behauptung, die Belastung durch Todesfälle speziell auf Impfstoffe zu schieben, ist weit hergeholt und wird von den Autoren des Papiers, soweit ich sehen kann, nicht aufgestellt", erklärte John P. A. Ioannidis, Professor für Medizin und Professor für Epidemiologie und Bevölkerungsgesundheit in Stanford, in einer E-Mail an AFP am 13. Juni 2024. "Ich denke, dass Impfstoffe insgesamt viele Leben gerettet haben. Nicht so viele, wie manche behaupten, die versuchen, eine perfekte Geschichte zu malen, aber ich glaube definitiv nicht, dass sie mehr Menschen getötet als gerettet haben", fügte er hinzu.

Kinderkrebsklinik in Utrecht distanziert sich

Am 11. Juni 2024 veröffentlichte das Prinzessin-Máxima-Zentrum für pädiatrische Onkologie mit Sitz in Utrecht eine Erklärung, in der es sich von der Studie distanzierte (hier archiviert). "Es haben sich ernsthafte Fragen zu dieser Veröffentlichung ergeben", so das Zentrum. "Das Prinzessin-Máxima-Zentrum bedauert zutiefst, dass diese Veröffentlichung den Eindruck erwecken könnte, dass die Bedeutung von Impfungen in Frage gestellt wird."

In der Erklärung heißt es, die ursprüngliche Idee der Studie sei gewesen, "die Auswirkungen von unter anderem Covid-Maßnahmen auf die Sterblichkeitsrate krebskranker Kinder in Ländern mit niedrigem Einkommen zu untersuchen". Allerdings "verlagerte sich der Schwerpunkt im Laufe der Studie jedoch in eine Richtung, die unserer Meinung nach zu weit von unserem Fachgebiet entfernt war: der pädiatrischen Onkologie. Wir sind keine Experten für Epidemiologie und wollen auch nicht diesen Eindruck erwecken". Abschließend heißt es in der Erklärung: "Die Studie weist in keiner Weise einen Zusammenhang zwischen Impfungen und erhöhter Sterblichkeit nach; das ist ausdrücklich nicht das Ergebnis der Forschenden. Wir bedauern daher, dass dieser Eindruck entstanden ist."

Die Studie dankt zudem der Unterstützung der Wohltätigkeitsorganisation World Child Cancer – The Netherlands. Am 12. Juni 2024 veröffentlichte die Stiftung World Child Cancer jedoch eine Erklärung, in der es heißt, dass sie "in dieser Veröffentlichung fälschlicherweise als Sponsor aufgeführt" wurde. "Dank der engagierten Spender von World Child Cancer – The Netherlands kann World Child Cancer Programme und Projekte finanzieren, die Wissen und Fähigkeiten an Krankenhäuser in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen weitergeben. Das Outreach-Team des Prinzessin-Máxima-Zentrums führt diese Programme und Projekte durch", heißt es in der Erklärung.

Kritik an der Studie

Nach der Veröffentlichung der Studie wurde sie im Internet kritisiert, zum Beispiel in diesem Thread auf X (archiviert) oder in diesem Beitrag von Jeffrey S. Morris, Professor für öffentliche Gesundheit und Präventivmedizin und Direktor der Abteilung für Biostatistik an der Perelman School of Medicine der Universität von Pennsylvania.

"Diese Arbeit liefert keinerlei Beweise dafür, dass die Covid-19-Impfstoffe die Sterblichkeit erhöht haben", schrieb Morris in einer am 13. Juni 2024 eingegangenen E-Mail an AFP. Sie zeigt lediglich, dass die übermäßige Zahl an Todesfällen im Jahr 2020 nicht aufhörte, sondern in den Jahren 2021 bis 2022 "trotz Eindämmungsmaßnahmen und Impfstoffen" weiter anhielt und dass die Forschenden Anlass zu Bedenken hatten.

"Wie bereits erwähnt, liefern die Forschenden keinerlei direkte Beweise dafür, dass Impfstoffe Übersterblichkeit verursacht haben, geschweige denn eine Hauptursache waren. Sie stellen einfach fest, dass überzählige Todesfälle durch eine Kombination aus Corona, Eindämmungsmaßnahmen und Impfstoffen erklärt werden könnten und schreiben dann eine narrativgetriebene, knappe Übersichtsarbeit, in der sie darüber spekulieren, wie Eindämmungsmaßnahmen und Impfstoffe prinzipiell zu überzähligen Todesfällen führen könnten. Sie bringen aber keinen Beweis dafür, dass dies der Fall war, während sie die Rolle von Covid herunterspielen, die sich in zahlreichen anderen Veröffentlichungen und sogar in ihren eigenen Daten als wichtigster Erklärungsfaktor erwiesen hat", schrieb Morris.

"Ich habe mir die Publikation angesehen und ich denke, dass es sich insgesamt um eine gut gemachte Analyse handelt. Wir haben in PNAS Schätzungen zur Übersterblichkeit für 2020 bis 2023 veröffentlicht, und sie scheinen im Großen und Ganzen mit den Ergebnissen der Studie übereinzustimmen", so Ioannidis von der Universität Stanford gegenüber AFP. Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) ist eine von Expertinnen und Experten begutachtete Zeitschrift der US-amerikanischen National Academy of Sciences (NAS). Die von Ioannidis erwähnte Arbeit trägt den Titel "Schwankungen der Übersterblichkeit in Ländern mit unterschiedlicher Gefährdung im Zeitraum 2020 bis 2023" und wurde im November 2023 veröffentlicht (archiviert).

In dem Papier wird grob zwischen zwei Gruppen von Ländern unterschieden: Länder mit hohem Einkommen, geringer Armut und keinen großen Einkommensunterschieden, in denen im Zeitraum von 2020 bis 2023 insgesamt keine oder nur geringe Sterbefallzahlen (oder sogar ein Sterbedefizit) zu verzeichnen waren, und Länder mit einem nicht sehr hohen Einkommen, einem hohen Anteil von Menschen in Armut oder erheblichen Einkommensunterschieden, in denen es in diesem Zeitraum zu einem "sehr hohen Sterbefallüberschuss" kam.

Ioannidis erklärte, dass die Pandemie die Gesundheitssysteme weltweit unterschiedlich stark belastet habe. Der Erfolg der Systeme hänge auch von den vorhandenen Ressourcen ab. Über die Studie führte er weiter aus: "Ich denke, die Herausforderung liegt in der Interpretation der zusätzlichen Todesfälle." Das Papier enthalte eine "ausgewogene Diskussion" vieler möglicher Faktoren, aber: "Viele der beitragenden Faktoren neigen dazu, nebeneinander zu existieren, was ihre Entflechtung noch schwieriger macht."

Andere Behauptungen zu Corona und Impfstoffen hat AFP bereits in der Vergangenheit überprüft.

Fazit: Eine Studie der Fachzeitschrift BMJ Public Health sorgte im Juni 2024 für Kontroversen. Die Arbeit beschäftigte sich mit Übersterblichkeit in den Jahren 2020 bis 2022. Einige Experten kritisierten die Studie, in der aber gar kein kausaler Zusammenhang zwischen Impfstoffen und erhöhter Sterblichkeit festgestellt wurde.